Ein liberales Projekt? Die ungarischen „Fachkollegien“ seit dem Spätsozialismus

Beginn des Projektes: Mai 2019

Assoziiertes Dissertationsprojekt
im Rahmen des Interdisziplinäre Forschungsnetzwerk Legacies of Communism? Post‐Communist Europe from Stagnation to Reform, between Autocracy and Revolution

Wenn Viktor Orbán heute von Ungarn als „illiberaler Demokratie“ spricht, scheint es überraschend, wie er Ende der 1980er Jahre angefangen hat: als Gründer einer Jugendpartei, in der er mit seinen Freund:innen lautstark demokratische Reformen und den Abzug sowjetischer Truppen forderte. Die im Untergang begriffene sozialistische Staatspartei provozierte der Fidesz damit auf ganzer Linie. Gefunden hatte sich die Gruppe um Orbán in einem Budapester Studierendenwohnheim, das sich von den Massenunterkünften der damaligen Zeit abhob: Eine kleine Gemeinschaft handverlesener Jura-Studierender arbeitete hier in Eigenregie an ihrer Weiterbildung über das universitäre Curriculum hinaus, gelangte teils bis nach Oxford – finanziert von George Soros Open Society Foundation, die das Land 2017 aufgrund einer Fidesz-Kampagne verlassen musste.

Bis heute gelten die „Fachkollegien“ als Tummelplatz der Nachwuchs-Elite in Ungarn. Absolvent:innen sitzen in hohen Posten der Staatsverwaltung, sind Mitglieder der Regierung oder nehmen als Politikberater:innen Einfluss. Was sie eint, ist neben einem enggeknüpften Netzwerk die nachhaltige Prägung, die sie im jungen Erwachsenenalter im Kollegium erlebt haben: die Lebenswelt zwischen Prüfungen und Partys, zwischen Sozialismus und Postsozialismus, zwischen politischem Aktivismus und dem Streben danach, die Besten der Besten zu werden.
Die Fachkollegien wurden zum Schauplatz gesellschafts- und regimekritischer Diskurse im Spannungsfeld zwischen Demokratisierung, Modernisierung und aufkeimenden populistischen Strömungen. Mit ihnen ist im Spätsozialismus aus einer studentischen Initiative eine von der Universität weitgehend autonome Institution entstanden. In diesem geschützten Raum haben sich Studierende vor und nach dem Regimewechsel demokratische Kultur und Praktiken angeeignet und gelernt Politik zu machen. Seit den 1990er Jahren mussten sie aber auch ihr Verhältnis zum kontinuierlich nach rechts rückendem Fidesz überdenken. 

Das Forschungsprojekt untersucht die Rolle der Fachkollegien im Übergang von Spätsozialismus zu Demokratie. Drei Problemfeldern gilt dabei besondere Aufmerksamkeit: 1. dem familiären Zusammenleben und daraus resultierenden engen persönlichen Netzwerken; 2. dem Hybridcharakter aus Traditionen ungarischer und internationaler Elitenbildungsinstitutionen; 3. dem Verhältnis zu populistischen und illiberalen Diskursen in einem eigentlich liberaldemokratischen Umfeld. Somit trägt das Projekt zu Rückschlüssen über die widersprüchliche Entwicklung Ungarns seit dem Ende des Staatsozialismus bei.

Betreut wird die Promotion von Hannes Grandits (Humboldt-Universität zu Berlin) und Friederike Kind-Kovács (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung).

Zur Website des Interdisziplinäre Forschungsnetzwerks "Legacies of Communism?" gelangen Sie hier.

Maren Francke

Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam

Büro: Am Neuen Markt 9d, Raum 1.00
Tel.: 0331 74510-119
Fax: 0331 74510-143
E-Mail: francke [at] zzf-potsdam.de

Forschung

Ein liberales Projekt? Die ungarischen „Fachkollegien“ seit dem Spätsozialismus

Beginn des Projektes: Mai 2019

Assoziiertes Dissertationsprojekt
im Rahmen des Interdisziplinäre Forschungsnetzwerk Legacies of Communism? Post‐Communist Europe from Stagnation to Reform, between Autocracy and Revolution

Wenn Viktor Orbán heute von Ungarn als „illiberaler Demokratie“ spricht, scheint es überraschend, wie er Ende der 1980er Jahre angefangen hat: als Gründer einer Jugendpartei, in der er mit seinen Freund:innen lautstark demokratische Reformen und den Abzug sowjetischer Truppen forderte. Die im Untergang begriffene sozialistische Staatspartei provozierte der Fidesz damit auf ganzer Linie. Gefunden hatte sich die Gruppe um Orbán in einem Budapester Studierendenwohnheim, das sich von den Massenunterkünften der damaligen Zeit abhob: Eine kleine Gemeinschaft handverlesener Jura-Studierender arbeitete hier in Eigenregie an ihrer Weiterbildung über das universitäre Curriculum hinaus, gelangte teils bis nach Oxford – finanziert von George Soros Open Society Foundation, die das Land 2017 aufgrund einer Fidesz-Kampagne verlassen musste.

Bis heute gelten die „Fachkollegien“ als Tummelplatz der Nachwuchs-Elite in Ungarn. Absolvent:innen sitzen in hohen Posten der Staatsverwaltung, sind Mitglieder der Regierung oder nehmen als Politikberater:innen Einfluss. Was sie eint, ist neben einem enggeknüpften Netzwerk die nachhaltige Prägung, die sie im jungen Erwachsenenalter im Kollegium erlebt haben: die Lebenswelt zwischen Prüfungen und Partys, zwischen Sozialismus und Postsozialismus, zwischen politischem Aktivismus und dem Streben danach, die Besten der Besten zu werden.
Die Fachkollegien wurden zum Schauplatz gesellschafts- und regimekritischer Diskurse im Spannungsfeld zwischen Demokratisierung, Modernisierung und aufkeimenden populistischen Strömungen. Mit ihnen ist im Spätsozialismus aus einer studentischen Initiative eine von der Universität weitgehend autonome Institution entstanden. In diesem geschützten Raum haben sich Studierende vor und nach dem Regimewechsel demokratische Kultur und Praktiken angeeignet und gelernt Politik zu machen. Seit den 1990er Jahren mussten sie aber auch ihr Verhältnis zum kontinuierlich nach rechts rückendem Fidesz überdenken. 

Das Forschungsprojekt untersucht die Rolle der Fachkollegien im Übergang von Spätsozialismus zu Demokratie. Drei Problemfeldern gilt dabei besondere Aufmerksamkeit: 1. dem familiären Zusammenleben und daraus resultierenden engen persönlichen Netzwerken; 2. dem Hybridcharakter aus Traditionen ungarischer und internationaler Elitenbildungsinstitutionen; 3. dem Verhältnis zu populistischen und illiberalen Diskursen in einem eigentlich liberaldemokratischen Umfeld. Somit trägt das Projekt zu Rückschlüssen über die widersprüchliche Entwicklung Ungarns seit dem Ende des Staatsozialismus bei.

Betreut wird die Promotion von Hannes Grandits (Humboldt-Universität zu Berlin) und Friederike Kind-Kovács (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung).

Zur Website des Interdisziplinäre Forschungsnetzwerks "Legacies of Communism?" gelangen Sie hier.

Maren Francke

Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam

Büro: Am Neuen Markt 9d, Raum 1.00
Tel.: 0331 74510-119
Fax: 0331 74510-143
E-Mail: francke [at] zzf-potsdam.de

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