Stolpersteine – an vielen Orten erinnern sie an Menschen, die zwischen 1933 und 1945 vom nationalsozialistischen Regime verfolgt wurden. Den ersten Stein verlegte der Künstler Gunter Demnig 1992 in Köln. Heute, knapp 30 Jahre später, bilden 70.000 Stolpersteine in 24 Ländern zusammen eines der größten dezentralen Denkmäler Europas. Doch mancherorts stieß das Projekt auch auf Kritik. Welche Rolle spielen die Stolpersteine in den Erinnerungskonflikten der Gegenwart? Darüber spricht Tim Schleinitz mit Thomas Schaarschmidt vom ZZF und Silvija Kavčič von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin. Anschließend berichtet Florian Peters über polnische Sichtweisen auf das Kunstprojekt und Peter Cole schildert, warum auch Chicago Stolpersteine bekommt.
Die Stolpersteine erinnern an die Verfolgung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Sintezze, Romnija und Roma, Menschen aus dem politischen oder religiös motivierten Widerstand, Homosexuelle, Zeuginnen und Zeugen Jehovas, Opfer von Krankenmorden und Menschen, die als „Asoziale“ kriminalisiert wurden. Was als kleine, künstlerische Intervention im öffentlichen Raum begann, ist heute ein zentraler Bestandteil der europäischen Gedenkkultur. Eine Tagung hat 2019 erstmals die internationale Dimension des Projekts in den Blick genommen. Die Vorträge sind nun als Buch erschienen. Sie reflektieren diese besondere Form des Gedenkens und zeigen, welche weiteren Aktionen die Stolpersteine weltweit inspiriert haben, wo es zu Problemen kam und wie sich das Projekt über die Zeit verändert hat.
Weitere Informationen gibt es auf der Stolpersteine-Website von Gunter Demnig und der Website der Koordinierungsstelle Berlin. Wer selbst einen Stolperstein initiieren möchte, findet hier weitere Infos.
Das Buch zur Tagung:
Silvija Kavčič, Thomas Schaarschmidt, Anna Warda und Irmgard Zündorf (Hg.): Steine des Anstoßes. Die Stolpersteine zwischen Akzeptanz, Transformation und Adaption, Berlin 2021.
Am Ende der Podcast-Folge spricht Peter Cole über das Chicago Race Riot of 1919 Commemoration Project. Hier eine Übersetzung seines auf Englisch eingesprochenen Statements:
»Mein Name ist Peter Cole. Ich bin Geschichtsprofessor an der Western Illinois University in den USA. Ich bin der Gründer und Co-Direktor des ›Chicago Race Riot of 1919 Commemoration Project‹, das wir auch als ›CRR19‹ bezeichnen. In dieser Funktion war es mir eine Ehre, zusammen mit Dr. Sarah Hall, Germanistik-Professorin an der University of Illinois, Chicago, auf der Stolpersteine-Konferenz 2019 zu sprechen. CRR19-Co-Direktor Dr. Franklin N. Cosey-Gay war nicht in Berlin dabei, half uns aber beim Verfassen unseres Kapitels.
Wie bin ich dazu gekommen, mich mit dem Thema Stolpersteine und dezentraler Erinnerungskultur zu beschäftigen? Ich hatte die großartige Gelegenheit, von 2016 bis 2018 drei Sommer in Berlin zu verbringen. So viel Zeit in Berlin und anderen Teilen Deutschlands zu verbringen – darunter Hamburg, Tübingen, Leipzig und andere Orte – ermöglichte es mir, die vielen und unterschiedlichen Arten kennenzulernen, wie Deutschland heute mit der schwierigen Geschichte des Holocausts umgeht. Für mich, als Historiker für afroamerikanische und US-amerikanische Geschichte sowie als jüdischer Amerikaner, ist der Kontrast zwischen dem heutigen Deutschland und der weit verbreiteten Verweigerung in den Vereinigten Staaten, sich mit unserer langen und hässlichen Geschichte von Rassismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit auseinanderzusetzen, ziemlich schockierend. Vor allem die Stolpersteine haben mich tief beeindruckt und zu dem Projekt ›Chicago 1919‹ inspiriert. Im Jahr 2018 besuchte ich einige Mitglieder des Stolpersteine-Teams und beschloss, Demnigs Idee, historische, durch Hass motivierte Gewalt durch dezentrale Kunst im öffentlichen Raum zu würdigen, in die Stadt Chicago zu bringen.
Was sind die besonderen oder einzigartigen Merkmale oder Aspekte der Stolpersteine oder dezentraler Gedenkstätten in dem Land, zu dem ich arbeite? 1919 kam es in Chicago zum bisher schlimmsten Vorfall rassistischer Gewalt, als ein 17-jähriger Schwarzer von einem Weißen getötet wurde, der nicht verhaftet wurde. Der weiße Mann wurde von der Polizei nicht verhaftet. Das einzige Verbrechen des Kindes war das Schwimmen in ›einem weißen Teil des Michigansees‹. Wir sagen, er wurde getötet, weil er als Schwarzer schwamm. In dieser Nacht, als die Spannungen in der Stadt eskalierten, griffen Banden von weißen Männern wahllos Afroamerikaner an. Eine Woche später waren 38 Menschen getötet und 537 verletzt worden. In Zusammenarbeit mit einem Kunststudio, das Jugendliche und junge Erwachsene ausbildet, die selbst Opfer von Waffengewalt geworden sind, und einer gemeinnützigen Organisation, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, plant CRR19, 38 Markierungen zu entwerfen und herzustellen, eine für jede getötete Person, die in den Straßen Chicagos aufgestellt werden sollen, dort, wo jeder von ihnen getötet wurde. Wir arbeiten mit unseren Partnern in der Stadt zusammen, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Sobald wir unser Ziel der öffentlichen Kunst erreicht haben, werden die Menschen in der Stadt nicht mehr in der Lage sein, dieses entscheidende Ereignis zu ignorieren, das in der breiten Bevölkerung noch immer fast völlig unbekannt ist – obwohl die Ereignisse von 1919 die Stadt bis heute prägen. Herzlichen Dank!"