Zeit: 18 bis 20 Uhr
Der Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" im östlichen Europa 1989/90 hat die politische Linke, soweit sie eine historische Alternative zum Kapitalismus zu repräsentieren beanspruchte, in eine tiefe Desorientierung gestürzt. Das gilt nicht nur für die Anhänger der besagten Ordnung, sondern auch für ihre grundsätzlichen Kritiker. Die verbreitete Desorientierung und Demoralisierung wurde wesentlich verstärkt durch die Erkenntnis, dass die Zeit der klassischen Arbeiterbewegung, sei es in Gestalt der tradierten Organisationen, sei es in Gestalt spontaner Kämpfe, vorbei war. In Deutschland kamen bei einem Teil des Spektrums zudem diffuse Ängste vor einem "Vierten Reich" hinzu, während andere Segmente sich schnell auf die neue Situation einzustellen suchten, so auch die aus den Resten der SED hervorgegangene und diese rechtlich fortsetzende PDS, die sich - etliche Jahre erfolgreich - als Stimme des ostdeutschen Protests gegen die Verwerfungen im Gefolge der Einigung Deutschlands durch Beitritt der DDR etablieren konnte. Inzwischen ist der soziale Protest rechtsaußen angesiedelt, genauer: wird er durch die Wahl rechter und rechtsextremer Listen artikuliert - und das nicht nur in Deutschland. Die kapitalismuskritische Linke ist angesichts dessen, jenseits der unterschiedlichen organisatorischen Bindungen, soziokulturell gespalten. Andererseits hat die automatische Identifikation antikapitalistischer Positionen mit dem Ostblocksystem nachgelassen. Immer wieder entstehen seit der Jahrtausendwende, getragen von jüngeren Altersgruppen, neue soziale Bewegungen, so gegen die neoliberale Globalisierung, den Klimawandel u.a., während die relativ linken Parteien im Bundestag ihre über mehrere Legislaturperioden vorhandene, damals selbst für begrenzte Ziele nicht genutzte Mehrheit eingebüßt haben.
Zur Ringvorlesung:
Vor 30 Jahren wurden die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa überwunden. Seitdem steht die Chiffre »1989« für das Wunder der friedlichen Revolution und das Versprechen demokratischer Freiheiten. Tatsächlich hat der revolutionäre Aufbruch zwar umfassende politische und gesellschaftliche Umwälzungen bewirkt. Doch langfristig wurden damit in den Ländern des ehemaligen »Ostblocks« auch Entwicklungen an-gestoßen und Bewegungen mobilisiert, die die Werte und er-kämpften Rechte von damals heute wieder in Frage stellen. Dabei schrecken ihre Vertreter nicht davor zurück, für ihre An-liegen auch mit einstigem Revolutions-Vokabular zu werben.Das Jubiläum bietet die Chance einer doppelten Neuvermes-sung. Die Ringvorlesung diskutiert erstens »1989« als Teil einer »langen Wende« von der geteilten Welt zum geeinten Europa und zweitens als Referenzpunkt gesellschaftlicher Krisenentwicklungen der Gegenwart. Damit eröffnet die Vortragsreihe neue Perspektiven auf das »Erbe von 1989« und eine Standortbestimmung sowohl der Berliner Republik als auch des heutigen Europas.
Veranstalter der Ringvorlesung "1989 - (k)eine Zäsur?":
Lehrstuhl für Neueste und Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin
Stiftung Berliner Mauer
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
In Kooperation mit:
Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Konzeption der Ringvorlesung:
MARTIN SABROW
GERHARD SÄLTER
TILMANN SIEBENEICHNER
PETER ULRICH WEISS
Weitere Termine der Ringvorlesung:
05.02.2020
NENAD STEFANOV (Berlin)
Zwischen Ethnos und Demos: Territorialität, kulturelle Grenzen und politische Zugehörigkeit in Ostmittel- und Südosteuropa seit 1989
Ort: Bundesstiftung Aufarbeitung
12.02.2020
ANNA KAMINSKY / CHRISTINA MORINA / GERHARD SÄLTER (Berlin / Jena / Berlin)
Aufarbeitung und Wissenschaft zwischen Kooperation und Konflikt
Ort: Stiftung Berliner Mauer
Humboldt-Universität zu Berlin
Hausvogteiplatz 5–7
Saal 007
10117 Berlin
Der Eintritt zu allen Vortragsterminen der Reihe ist frei.
Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Die Veranstaltungen werden in Ton und Bild dokumentiert und u.U. veröffentlicht.