Friedrichshain und Kreuzberg waren einst das Armenhaus von Berlin. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm ihre Geschichte einen unterschiedlichen Verlauf, bis der Mauerbau 1961 schließlich die meisten Verbindungen zwischen Friedrichshain und Kreuzberg kappte. Seit dem Fall der Mauer 1989 haben sich die beiden Bezirke jedoch wieder angenähert und fusionierten im Jahr 2001 sogar zu einem gemeinsamen Stadtbezirk. Friedrichshain und Kreuzberg bilden somit eine historische Versuchsanordnung, die auf lokaler Ebene einen einzigartigen Blick auf die Zeit der deutschen Teilung erlaubt.
Das Projekt war der Versuch einer im doppelten Sinne geteilten Geschichte, die sowohl Aspekte der politisch-gesellschaftlichen Teilung als auch geteilte Herausforderungen betrachtet. Eine solchermaßen integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte erschöpft sich nicht in der Kontrastgeschichte eines diktatorisch und eines demokratisch verfassten Gemeinwesens, sondern fragt nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Verflechtungsprozessen zwischen Friedrichshain und Kreuzberg.
Im Zentrum der Untersuchung stand das genuin städtische Wechselverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, das sich in den Jahren der Teilung in Ost und West dynamisch veränderte. Ein verstärkter Rückzug ins Private ging einher mit der Entstehung neuer Stadtteil- und Gegenöffentlichkeiten. Private und öffentliche Räume wurden neu gestaltet, besetzt und gegen politische Zugriffe verteidigt. Ein massenmedialer, transnationaler Raum verband den Osten mit dem Westen und prägte die Ausgestaltung privater Lebensstile auf beiden Seiten der Mauer. Während sich Kreuzberg jedoch zu einem Laboratorium der Liberalisierung entwickelte, das stark auf die Bundesrepublik ausstrahlte, fehlten in Friedrichshain die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine vergleichbar expressive Privatheit und öffentliche Gegenkultur wie im „gallischen Dorf“ Kreuzberg. Doch auch im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain entstanden soziale Nischen nonkonformen Lebens und punktuelle Gegenöffentlichkeiten, die in der staatlich monopolisierten Öffentlichkeit der SED-Diktatur zwar auf eng umrissene gesellschaftliche Nahbereiche begrenzt blieben, aber auf längere Sicht eine der Voraussetzungen für die friedliche Revolution von 1989 bildeten.
Das Projekt untersuchte den historischen Wandel und das Wechselverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit in Friedrichshain und Kreuzberg exemplarisch anhand von drei lebensweltlichen Feldern: Am Beispiel des Wohnens in den gründerzeitlichen Mietskasernen wurde erstens gezeigt, dass die einfachen Wohnverhältnisse im alten Berliner Osten lange Zeit kaum Raum zur Entfaltung von Privatheit zuließen, in der ersten Jahrhunderthälfte aber zunehmend Gegenstand öffentlicher Interventionen wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden durch den Bevölkerungsverlust und die fortschreitende Vernachlässigung der Altbausubstanz gesellschaftliche Freiräume zur Erprobung alternativer privater Lebensformen, die insbesondere in Kreuzberg neue linksalternative Gegenöffentlichkeiten in Gestalt von Stadtteilzeitungen, Kneipenkollektiven und Kiezfesten hervorbrachten. Dies trug seit den 1970er Jahren maßgeblich zu einer positiven Neubewertung der Altbauviertel bei, die Teil eines allgemeinen geschichtskulturellen Wandels war und sich in den 1980er Jahren auch in Friedrichshain zeigte. Eine wichtige Rolle auf dem Weg zur „Behutsamen Stadterneuerung“ in Kreuzberg spielte zweitens die Evangelische Kirche, die sich in den 1970er Jahren verstärkt den Problemen der Sanierung zuwandte und die Entstehung einer neuen stadtteilbezogenen Öffentlichkeit anstieß, während sich in Friedrichshain unter dem Dach einiger evangelischer Kirchengemeinden eine kritische Gegenöffentlichkeit bildete, die die privaten Sorgen systemferner Jugendlicher aufgriff und sich gegen die Herrschafts- und Erziehungsansprüche der SED-Diktatur richtete. Drittens wurde am Beispiel des Vergnügens in Friedrichshain und Kreuzberg ein neues zeitgeschichtliches Untersuchungsfeld erschlossen, das für das Wechselverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit konstitutiv war und einen wichtigen Verflechtungsraum zwischen Ost und West bildete. Während die urbane Vergnügungskultur in Friedrichshain eher traditionell geprägt blieb und Versuche einer sozialistischen Indienstnahme des Vergnügens weitgehend scheiterten, diversifizierte sich die Kreuzberger Vergnügungskultur seit den 1970er Jahren erheblich und trug auf diese Weise zu der neuen Attraktivität und wiedergewonnenen Urbanität der Altbauviertel bei.
Diese Entwicklungen resultierten in einer unerwarteten Aufwertung von Kreuzberg und Friedrichshain, die sich nach der Wiedervereinigung der Stadt voll entfaltete und die beiden alten Arbeiterbezirke zum ersten Mal in ihrer Geschichte in hochwertige und begehrte Wohnlagen verwandelte. Bei diesem Prozess spielte die Ausbildung alternativer privater Lebensmodelle und neuer öffentlicher Vergemeinschaftungsformen eine entscheidende Rolle. Dabei war die Frage von Öffentlichkeit und Privatheit nach wie vor von großer Relevanz in Friedrichshain und Kreuzberg, wie der Ausblick auf die Transformationsgeschichte der beiden Bezirke seit 1989/90 zeigt. Beide Stadtteile haben sich soziostrukturell und kulturell angeglichen und teilen nunmehr neue Herausforderungen wie die Privatisierung des öffentlichen Raumes und die Gentrifizierung der inzwischen weitgehend sanierten Altbaugebiete. Diese ambivalente Entwicklung geht in ihren Ursprüngen auf die Zeit der Teilung zurück. Die Untersuchung der geteilten Geschichte von Friedrichshain und Kreuzberg verstand sich insofern auch als ein Beitrag zur Problemgeschichte unserer Gegenwart.
Abschluss des Promotionsprojekts an der FU Berlin am 19. Juli 2016.
Publikation:
Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin, Göttingen 2017.
Die Publikation ist erschienen in der ZZF-Reihe "Geschichte der Gegenwart" als Band 16.