Call for Papers
Übersehen, vergessen, stillgestellt? Zur Latenz kulturellen Erbes
Tagung | 09.-10. April 2024 | Leipzig
Veranstalter:
Leibniz Forschungsverbund Wert der Vergangenheit
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) Leipzig
Organisatoren:
PD Dr. Stefanie Samida (Historisches Seminar, Universität Heidelberg)
Dr. Sabine Stach (GWZO Leipzig)
Dr. Achim Saupe (ZZF Potsdam)
Die Tagung möchte sowohl ‚stilles‘, verborgenes und übersehenes Erbe exemplarisch ans Tageslicht holen, als auch auf einer (meta-)theoretischen Ebene über dessen paradoxalen Status zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Ferne, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit reflektieren.
Kulturelles Erbe ist mehr als etwas Überliefertes, Bewahrenswertes, Identitätsstiftendes. In einem praxeologisch-konstruktivistischen Verständnis meint Kulturerbe bzw. Heritage eine soziale Praxis. Anders als die lange vorherrschenden essentialistischen Vorstellungen, wonach die Vergangenheit ‚nur‘ wiederentdeckt werden müsste, um sie zu bewahren, nimmt der praxeologische Zugriff die komplexen und vielfältigen Verflechtungen verschiedener Entitäten in den Blick. Wenn wir von Kulturerbe/Heritage (oder synonym auch nur von Erbe) sprechen, dann ist damit nicht ein materielles Objekt oder ein bestimmter Traditionsbestand gemeint, vielmehr steht die Praxis der Aneignung von Vergangenheit im Vordergrund. In der Kulturerbeforschung ist wiederholt hervorgehoben worden, wie zentral dabei Prozesse der Autorisierung und der Auszeichnung sind. Unbestimmter ist jedoch, wann diese Prozesse der heritagization beginnen und enden. Was hemmt die ‚Erbewerdung‘, wann kommt sie sozusagen zum ‚falschen Zeitpunkt‘, wann kann sie als gescheitert angesehen werden? Und mehr noch: Gibt es Relikte, Praktiken und Traditionen, die sich einer Aneignung langfristig oder sogar grundsätzlich verweigern oder gar (dauerhaft) in einem Zwischenfeld changieren?
Die Tagung widmet sich diesem Davor, Dazwischen oder Danach unter dem Begriff der „Latenz“. Dem latenten Erbe-Status, über den wir gemeinsam diskutieren möchten, wurde bisher nur selten die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Hier scheint das zu gelten, was der Ethnologe Hans Peter Hahn mit Blick auf die materielle Kultur vor einigen Jahren angemahnt hat: Der Fokus werde allzu oft auf die „hoch bewerteten, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Objekte“ gelegt; dabei sei es gerade interessant, sich den „’inerten‘, stillgestellten, wenig beachteten Objekten“ zu widmen, die zu „anderen Momenten eine außerordentliche Bedeutung gehabt haben“ oder zukünftig möglicherweise noch eine besondere Bedeutung haben werden. Übertragen auf Kulturerbe heißt dies, die Rückseiten des ‚Sehenswürdigen‘ in den Blick zu nehmen.
Die Tagung möchte nicht nur ‚stilles‘, verborgenes und übersehenes Erbe exemplarisch ans Tageslicht holen, sondern zugleich auf einer (meta-)theoretischen Ebene über dessen paradoxalen Status zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Ferne, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit reflektieren. Es geht mithin um Werte-Fragen, um Aspekte der Absenz, Präsenz und Latenz, aber auch um Formen der (Nicht-)Aneignung: Unter welchen Bedingungen bleibt Überliefertes ‚unter dem Radar‘? Durch was oder wen vermag sich dieser Status zu wandeln? In welchen Kontext kommt dem Latenten ein Eigenwert zu? Nicht zuletzt werden damit übergeordnete, gesellschaftsrelevante Fragen adressiert: Wo verläuft die Grenze zwischen Übersehen, Vergessen und Verdrängen? Wie wirkt dieses ‚stille‘ Erbe – unbewusst und im wahrsten Sinne des Wortes ‚verborgen‘ – in die Gesellschaft bzw. in den Alltag hinein?
Eingeladen sind sowohl theoretisch-konzeptuelle Beiträge als auch empirische Fallstudien, die sich aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive dem still(gestellt)en, verborgenen oder übersehenen Erbe widmen. Eine räumliche Einschränkung wird bewusst nicht vorgenommen. Folgende Themenfelder und Fragen können dabei adressiert werden:
- Welche epistemischen Differenzen gibt es zwischen dem Latenten, Übersehenen, Verborgenen, Stillgestellten, Abgelegten, Missachteten oder auch Verdrängten und Vergessenen?
- In welchem Verhältnis stehen Konzepte wie „Difficult Heritage“ oder „Contested Heritage“ zur Frage der Latenz?
- Wie lässt sich das ‚Übersehen‘ im Zusammenhang mit Kulturerbe heuristisch fassen und was wäre das Gegenteil von ‚stillem Erbe‘?
- Welche Strategien gibt es, latentes Erbe zu (re-)aktivieren? Wer sind die beteiligten Akteure, welche Rolle spielen sie?
- Wie beeinflusst das ‚stille‘, verborgene, übersehene Erbe Gesellschaften in Gegenwart und Vergangenheit, ohne dass sie es ausdrücklich adressieren?
- Wo findet sich das latente Erbe, das an- und abwesend zugleich ist? Wie zeigt es sich, woran ist bzw. wird es erkenn- und sichtbar?
- Wann wechselt der (Erbe-)Status, in welchen Kontexten/Situationen bzw. zu welchen Ereignissen? Welche Prozesse laufen ab, wie verändern sich dadurch materielle Zeugnisse und Praktiken und wie ändert sich unser Blick auf dieses Erbe/Nicht-Erbe/latente Erbe?
- Gibt es latente Traditionsbestände, die zu bestimmten Zeiten aufgerufen werden – wie äußern sie sich?
- In welchen Fällen erhält gerade das Noch-Nicht oder Nicht-Mehr einen (ästhetischen, museologischen, konservatorischen, touristischen) Eigenwert (lost places, urbex, Alternativtourismus u. ä.)?
Die Vortragsvorschläge mit Vortragstitel und Abstract (max. 2000 Zeichen) für bislang unpublizierte Beiträge sowie einen kurzen CV senden Sie bitte bis zum 31.10.2023 an stefanie [dot] samida [at] zegk [dot] uni-heidelberg [dot] de (stefanie[dot]samida[at]zegk[dot]uni-heidelberg[dot]de)
Eine Benachrichtigung über die Annahme des Vorschlags erfolgt im November 2023.
Die Konferenzsprache ist Deutsch.
Kosten für Reise- und Unterkunft der Referent*innen übernimmt der Veranstalter.
Eine Publikation ist geplant.
Die Tagung wird durch das Research Lab „Inwertsetzung und Kommodifizierung“ des Leibniz-Forschungsverbunds „Wert der Vergangenheit“ unterstützt.