Forschungsprojekt
Das Projekt untersucht den individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit der Diskrepanz zwischen normativen Ansprüchen und tatsächlichen Praktiken. Es geht zum einen davon aus, dass sich in ausdifferenzierten Gesellschaften unter den Bedingungen komplexer und zunehmend globaler wirtschaftlicher, politischer und kultureller Austauschprozesse zwangsläufig Selbstwidersprüche ergeben. Zum anderen liegt ihm die Beobachtung zugrunde, dass diese Widersprüche seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik und anderen liberalen Demokratien verstärkt als Heuchelei oder hypocrisy kritisiert und skandalisiert wurden. Zugleich gewannen politische Bewegungen Zulauf, welche ökonomische und politische Praktiken wieder mit Moralvorstellungen in Einklang bringen wollten.
Im Zentrum der Untersuchung stehen die politische Kultur und Praxis des Heucheleivorwurfs, Konsum- und Identitätspolitiken, welche das Private politisieren sollten, und die Theoretisierung von Selbstwidersprüchen, die etwa in der Kritischen Theorie, der politischen Philosophie des Liberalismus, der Psychologie (kognitive Dissonanz) oder der Organisationssoziologie erfolgte. Der Anspruch, ein „richtiges Leben im falschen“ zu führen, und die Kritik an Verhaltensweisen, welche normativen Ansprüchen zuwiderlaufen, dienen dabei als Sonde, um den Wandel des Politischen in der Zeitgeschichte insgesamt in den Blick zu nehmen.