Dissertationsprojekt
Das Projekt untersucht die Geschichte der Fortschrittssemantik in der deutschen politischen Sprache im 20. Jahrhundert. Als zentraler Grundbegriff der Moderne, in dem sich nach Reinhart Koselleck ein spezifisches neues Zeit- und Geschichtsbewusstsein ausdrückte, bildete der ‚Fortschritt‘ eine wichtige Referenz für gesellschaftliche Selbst- wie Fremdbeschreibungen und -Befragungen. Zuordnungen und Ansprüche, was ‚Fortschritt‘ sei und wer für, wer gegen diesen einstehe, strukturierten politische und gesellschaftliche Konflikte. Gleichzeitig reagierten zeitgenössische Akteure auf verschiedenste Erfahrungen von Krieg oder Krisen mit dem Eindruck, die Idee und/oder der Begriff des ‚Fortschritts‘ hätten sich entleert oder seien nicht mehr haltbar: So etwa angesichts der Weltkriege und der Schoah, des Kolonialismus oder der zwiespältigen Folgen technischer und industrieller Modernisierung, z.B. in den Krisen der 1970er-Jahre. Das Projekt geht dieser Ambivalenz aus Kritik an und Abgesängen auf den ‚Fortschritt‘ einerseits und seinem fortwährenden Gebrauch andererseits nach und untersucht, welche Bedeutung Fortschrittssemantiken in ihrem alltäglichen Gebrauch in der politischen Sprache des 20. Jahrhunderts zukam: Wer nutzte den Begriff zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Intentionen? Wie wurde er explizit oder implizit (um-)definiert? Welche Funktionen erfüllte der Gebrauch des Begriffs in der politischen Sprache? An wen richteten sich Fortschrittsversprechen, wer blieb von ihnen ausgeschlossen und welche Ordnungsvorstellungen, Praktiken und Ideologien wurden mit ihnen legitimiert? In welchen thematischen Kontexten und Diskursen gewann der Begriff besondere Bedeutung?
Zur Beantwortung dieser Fragen werden klassisch-hermeneutische Methoden der Historischen Semantik mit quantitativen Ansätzen des Distant Reading kombiniert. Die wichtigsten hierfür genutzten Korpora bilden die Debatten des Reichstags und des Bundestags, ferner Zeitungen und Zeitschriften (insb. Neues Deutschland). Zusammen mit dem Begriff ‚Fortschritt‘ wird auch das semantische Feld um diesen herum untersucht, inklusive seiner Konkurrenz-, Komplementär- und Gegenbegriffe. Ausgehend von den quantitativen Auswertungen nimmt das Projekt den Begriffsgebrauch in Deutschland von der Weimarer Republik bis in die 1990er-Jahre in den Blick, wobei Fallstudien sich auf die Bundesrepublik und die DDR konzentrieren.
Das Dissertationsprojekt ist Teil der Untersuchung politisch-sozialer Zeit- und Prozessbegriffe und wird im Rahmen des Verbundprojekts „Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland“ gefördert, welches vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim und dem ZZF getragen wird. Projektleiter am ZZF ist Rüdiger Graf.