„Wann wird das Sprechen über Gefühle ein politischer Akt?“, war eine der Fragen, die den Poptheoretiker Mark Fisher umgetrieben haben. Tatsächlich hat er in seinem Buch „Gespenster meines Lebens“, die ihn heimsuchende Depression als ein gesellschaftliches Symptom diagnostiziert. Anhand popkultureller Phänomene wie Brit Pop, Retromania oder Dark Jungle bietet Fisher eine luzide aktuelle Kapitalismusanalyse und plädiert für eine „hauntologische Melancholie“, die eben nicht Resignation sei, sondern „vielmehr die Weigerung nachzugeben – das heißt die Weigerung, sich dem anzupassen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen ,Realität‘ heißt“. Melancholie als Resistance. Leider haben die Gespenster der Depression Mark Fisher all zu sehr gepeinigt, weshalb er sich vor vier Wochen das Leben nahm. Es bleiben seine klugen und inspirierenden Bücher und das schöne, aus Derridas „Marx’ Gespenster“ entlehnte Wort „Hauntologie“ im Popdiskurs.
Als Beispiel dafür sei zum einen auf die neueste Nummer der „Metamorphosen“ [1] hingewiesen, in der Luzia Niedermeier, u. a. auch hier im Hause tätig, über den „Spuk der Ordnung“ schreibt und zum anderen auf den vielgelobten Band „Futur II“ der Popband Ja, Panik, die sich gegen die Abschaffung der Zukunft und die drohende Mutation in Gespenster zu wehren versucht.
Aber auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich in den letzten Jahren immer mehr mit Gefühlen. So widmet sich das diesjährige und heute beginnende DoktorandInnenforum des ZZF einer kleinen Schwester der Depression, nämlich der Angst. Ausgehend von der These, dass kollektive wie individuelle, abstrakte wie konkrete Ängste wichtige Narrative der Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts bilden, diskutieren DoktorandInnen in fünf Panels ihre Forschungsvorhaben. Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen eine Handvoll Publikationen zur „Geschichte der Gefühle“ vor, die in der Bibliothek zu finden sind:
Zeitschrift für Ideengeschichte, 10 (2016 ) Heft 4 (Z 466)
Auch die Zeitschrift für Ideengeschichte, die von den drei großen Literaturarchiven der Bundesrepublik in Wolfenbüttel, Marbach und Weimar herausgegeben wird, hat sich im Winter 2016 den „Kleinen Depressionen“ gewidmet. In den Beiträgen von Peter-André Alt, Durs Grünbein, Paul Nolte u. a. wird Melancholie zwar in intellektuellen Kämpfen der Vergangenheit untersucht, aber Angst, Untergang und Depression werden als „politische Stimmungsgefühle der Jetztzeit“ in den Blick genommen.
Ute Frevert u. a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne (ZZF 23423) sowie dies.: Emotions in History – Lost and Found, beide 2011 (ZZF 23087)
Als eine Vorreiterin der zeithistorischen Erforschung der Gefühle gilt Ute Frevert, seit 2008 Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. In dem als Lexikon aufgebauten Band wird untersucht, wie sich das Wissen über Gefühle und deren Bewertung in den letzten 300 Jahren verändert haben. Als Analysematerial dienen wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten, die über Affekte, Leidenschaften, Empfindungen und Emotionen in Europa geführt wurden, in deren Zentrum Fragen stehen wie: Sind Gefühle geistiger oder körperlicher Natur? Haben Tiere Gefühle? Sind Männer gefühlsärmer als Frauen? Gibt es kindische und erwachsene Emotionen? Kann man Gefühle ,zivilisieren‘? Machen sie krank? Können Kollektive fühlen? Dass Gefühle wie auch Geschlechterrollen Bewertungen unterliegen, die eng mit den sozialen, kulturellen und politischen Strukturen der jeweiligen Gesellschaften korrespondieren und also nicht einfach nur naturhaft sind, ist ein Ergebnis der Forschungen der Gefühle. In der auch 2011 erschienen Monografie fasst die Emotionsforscherin die Geschichte der Gefühle in den drei Kapiteln Losing, Gendering und Finding Emotions unter der Fragestellung: The Economy of Emotions: How it works and why it matters? zusammen.
Jan Plamper: Geschichte und Gefühl, 2012 (ZZF 24604)
Von 2008 bis 2012 arbeitete Jan Plamper als Dilthey Fellow am Max-Planck-Institut bei Ute Frevert. Zum Ende seines Aufenthaltes erschien seine Monografie über die Grundlagen der Emotionsgeschichte. Im Mittelpunkt stehen Fragen, die auch auf dem DoktorandInnenforum diskutiert werden: Wie verändern sich Ehre im Laufe der Zeit, was bedeutet Vertrauen in der Wirtschaftsgeschichte, was richtete die sprichwörtliche ,German Angst‘ im 20. Jahrhundert an, und wieso befinden wir uns im sogenannten therapeutischen Zeitalter?
Patrick Kury: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, 2012 (ZZF 24809)
Wenn Angst und Überforderung zu viel werden, erleben das die meisten Menschen als Stress – oder als etwas, das sie so bezeichnen. Tatsächlich ist der Begriff relativ neu, das Gefühl dahinter aber sicher nicht. Patrick Kury erzählt die Geschichte des Stresses: von der Erforschung organischer Vorgänge in den 1930er Jahren über die psychosoziale Stressforschung in den USA und Skandinavien bis zur breiten Popularisierung des Stresskonzepts seit den 1970er-Jahren. Aktuell erfährt der Stress im Krankheitsbild des Burnouts Konjunktur. Heute sind Stress und Burnout, so Patrick Kury, Allroundbegriffe, mit denen sich die Auswirkungen des modernen Lebens auf den Einzelnen kritisch beschreiben lassen.
Luc Ciompi und Elke Endert: Gefühle machen Geschichte, 2011 (ZZF 22628)
Der Verknüpfung von politischer Inszenierung und kollektiven Emotionen gehen die beiden AutorInnen in ihrem Essay nach und nehmen dabei die Zeitgeschichte „von Hitler bis Obama“ in den Blick. Sie konstatieren, dass die mediale Aufbereitung von Naturkatastrophen, Krieg und Terror sowie politischen, sportlichen und kulturellen Großveranstaltungen in Fernsehen, Radio und Internet jeden Tag neue Bilder kollektiver Wut, Angst oder Freude verbreiten. Die AutorInnen interessieren sich vor allem für die Macht der Wir-Gefühle im Nationalsozialismus, im Israel-Palästina-Konflikt und bei der Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten und machen sich Gedanken darüber, welche Konsequenzen sich daraus für unser Menschenbild, für die Krisenintervention, Mediation und die Behandlung von kollektiven Traumata ergeben.
Oliver Grau und Andreas Keil: Mediale Emotionen, 2005 (ZZF 22468)
Wie Bilder und Klänge Emotionen anregen interessiert den Bildwissenschaftler Oliver Grau und den Kognitionsforscher Andreas Keil. In ihrem Sammelband, den sie als Beitrag zur „transdisziplinären Emotionsforschung“ verstanden wissen wollen, werden etwa Filme wie Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ und das Informations- und Rekrutierungs-Videospiel „America's Army“ analysiert auf ihre bewusste Lenkung von Gefühlen. Im Ergebnis plädiert Andreas Keil für eine „multivariante Emotionspsychologie in der affektiven Medienanalyse“, fragt aber auch zusammen mit Jens Eder, wie eine Netzwerktheorie der Emotionen mit den neuronalen Netzen der Neurowissenschaftler zusammenhängt – und kommt damit dem Anspruch an Transdisziplinarität recht nahe.
Bernd Greiner (Hg.): Angst im Kalten Krieg, 2009 (ZZF 21120)
Bernd Greiner, dessen Arbeiten zur Geschichte des Kalten Krieges einschlägig sind, und der heute Abend auch auf dem Podium des DoktorandInnenforums sitzen wird, ist Mitherausgeber dieses Bandes, der auf das emotionale Zentrum des Kalten Krieges aufmerksam macht: die Angst vor Nuklearwaffen und das politische Spiel mit der Angst – ‚Angst Haben‘ und ,Angst Machen‘. Gerade von den Mitteln, die größtmögliche Sicherheit gewährleisten sollten, ging maximale Gefahr aus. Wer glaubwürdig abschrecken wollte, musste den Gegner einschüchtern, verunsichern und ihm dauerhaft Rätsel aufgeben: Nie sollte er ein klares Bild von den eigenen Kapazitäten und Absichten gewinnen, nie gewiss sein, wie weit die Berechenbarkeit seines Gegenübers reichte. Ob und wann die vorsätzlich inszenierte Ungewissheit sich gegen ihre Urheber wenden, also just jene Aggressivität provozieren würde, die sie eigentlich hätte unterdrücken sollen, geriet folglich zum hintergründigen Reizthema der Epoche.
Erhard Oeser: Die Angst vor dem Fremden, 2015 (ZZF 28399)
Eine anthropologische Grundkonstante scheint die Angst vor dem Fremden zu sein, klingt durch das lateinische Wort dafür: Xenophobie, eher nach Krankheit als nach Konstruktion. Erhard Oeser untersucht die Wurzeln der Xenophobie vom Beginn der Menschheitsgeschichte bis zum Islamischen Staat und den Anschlägen in Paris 2015. Er analysiert die unterschiedlichen Ausprägungen von Xenophobie, spürt den Wendepunkten nach, an denen die Ablehnung des Fremden in Gewalt und den Wunsch zur Vernichtung umschlägt. Und er sucht – als Philosoph – nach den Mechanismen, die die Rückkehr zu einem friedlichen Miteinander ermöglichen.
Pierre-Frédéric Weber: Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945 – eine europäische Emotion im Wandel, 2015 (ZZF 26658)
Parallel zur Xenophobie bezeichnet Timor Teutonorum die Angst vor Deutschland und den Deutschen. Pierre-Frédéric Weber konstatiert, dass diese Angst eine der am tiefsten sitzenden kollektiven Emotionen in den Gesellschaften Europas sei und sogar eine Schlüsselrolle bei internationalen politischen Entscheidungen spiele. Seine Analyse, die nach Konstruktion, Dauerhaftigkeit, Abbau, Reaktivierung und politischer Instrumentalisierung des ambivalenten Timor Teutonorum fragt, konzentriert sich auf die beiden deutschen Nachbarstaaten Frankreich und Polen und damit auf einen westlichen und einen östlichen Nachbarn.
Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, 2014 (ZZF 28363)
Der Soziologe Heinz Bude geht davon aus, dass Angst zu der zentralen sozialen Kraft geworden sei. Im Klappentext heißt es: „Angst kennzeichnet eine Zeit, in der in Europa Populisten von rechts im Anmarsch sind, in der sich unter ganz normalen Leuten Erschöpfungsdepressionen ausbreiten und in der der Kapitalismus von allen als Krisenzusammenhang erlebt wird. Angst ist der Ausdruck für einen Gesellschaftszustand mit schwankendem Boden. Die Mehrheitsklasse fühlt sich in ihrem sozialen Status bedroht und im Blick auf ihre Zukunft gefährdet. Man ist von dem Empfinden beherrscht, in eine Welt geworfen zu sein, die einem nicht mehr gehört.“ Die taz attestiert Heinz Bude mit diesem Buch „die Umrisse eines ‚postdemokratischen‘ und ‚postsäkularen‘ Unbehagens“ skizziert zu haben.
Wolfgang Koeppen: Angst, 1987 (SB/L, Ko1)
Ein literarisches Beispiel für eine alltagsbeherrschende Angst findet sich in dem gleichnamigen Prosaband von Wolfgang Koeppen zu finden in der Bibliothek von Simone Barck, die inzwischen vollständig im Katalog erschlossen ist. In der gleichnamigen Erzählung von 1974, geht es um einen in New York lebenden Mann, der von der Angst vor einem gewaltsamen Tod besessen ist in einer Welt, die er nur als „sehr böse“ wahrnehmen kann. Hilfe, Trost, Gemeinschaft ist gänzlich unmöglich: „Kaplan hatte Angst, er war krank vor Angst, und hätte sich gern von allen unterschieden, die Angst hatten und ihm widerlich waren. Wie sie sicherte er, nach Hause gekommen, die Tür. So dumm, so mißtrauisch, so vertrauensvoll in den Gang der Geschäfte noch immer wie sie. Es war nicht zu fassen.“
Es wünscht eine vergnügliche, erhellende und ganz und gar angstfreie Lektüre,
das Bibliotheksteam
[1] http://www.magazin-metamorphosen.de/heft/
(16.02.2017)