08/2017: Geschichte der Gefühle

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„Wann wird das Sprechen über Gefühle ein politi­scher Akt?“, war eine der Fragen, die den Pop­theoreti­ker Mark Fisher umgetrieben haben. Tatsächlich hat er in seinem Buch „Gespenster meines Lebens“, die ihn heim­suchende Depression als ein gesell­schaft­liches Symptom diag­nostiziert. Anhand pop­kultureller Phänomene wie Brit Pop, Retro­mania oder Dark Jungle bietet Fisher eine luzide aktuelle Kapitalismus­analyse und plädiert für eine „hauntologische Melancholie“, die eben nicht Resignation sei, sondern „vielmehr die Weigerung nachzugeben – das heißt die Weigerung, sich dem anzupassen, was unter den gegen­wärti­gen Bedin­gungen ,Realität‘ heißt“. Melan­cholie als Resistance. Leider haben die Ge­spenster der Depression Mark Fisher all zu sehr gepeinigt, weshalb er sich vor vier Wochen das Leben nahm. Es bleiben seine klugen und inspirieren­den Bücher und das schöne, aus Derridas „Marx’ Gespenster“ ent­lehn­te Wort „Hauntologie“ im Popdiskurs. 
Als Beispiel dafür sei zum einen auf die neueste Nummer der „Metamorphosen“ [1] hingewiesen, in der Luzia Niedermeier, u. a. auch hier im Hause tätig, über den „Spuk der Ordnung“ schreibt und zum anderen auf den viel­gelobten Band „Futur II“ der Pop­band Ja, Panik, die sich gegen die Ab­schaffung der Zu­kunft und die dro­hende Muta­tion in Gespenster zu wehren versucht.
Aber auch die Geschichts­wissen­schaft be­schäftigt sich in den letzten Jahren immer mehr mit Ge­fühlen. So widmet sich das dies­jährige und heute be­ginnen­de DoktorandInnen­forum des ZZF einer kleinen Schwester der Depression, nämlich der Angst. Aus­gehend von der These, dass kollek­tive wie individuelle, ab­strakte wie konkrete Ängste wichti­ge Narrative der Gesell­schaf­ten des 20. und 21. Jahrhunderts bilden, diskutieren DoktorandInnen in fünf Panels ihre Forschungs­vor­haben. Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen eine Hand­voll Publika­tio­nen zur „Geschichte der Gefühle“ vor, die in der Biblio­thek zu finden sind:

Zeitschrift für Ideengeschichte, 10 (2016 ) Heft 4 (Z 466)
Auch die Zeitschrift für Ideen­geschichte, die von den drei großen Literatur­archiven der Bundes­republik in Wolfen­büttel, Mar­bach und Weimar heraus­ge­ge­ben wird, hat sich im Winter 2016 den „Kleinen Depressionen“ ge­widmet. In den Bei­trägen von Peter-André Alt, Durs Grün­bein, Paul Nolte u. a. wird Melan­cholie zwar in intellek­tuellen Kämpfen der Ver­gangen­heit unter­sucht, aber Angst, Unter­gang und Depression werden als „politische Stimmungs­gefühle der Jetzt­zeit“ in den Blick genommen.

Ute Frevert u. a.: Gefühls­wissen. Eine lexika­lische Spuren­suche in der Moderne (ZZF 23423) sowie dies.: Emotions in History – Lost and Found, beide 2011 (ZZF 23087)
Als eine Vor­reiterin der zeit­historischen Er­forschung der Gefühle gilt Ute Frevert, seit 2008 Direk­torin am Max-Planck-Institut für Bildungs­forschung. In dem als Lexikon auf­ge­bau­ten Band wird unter­sucht, wie sich das Wissen über Gefühle und deren Be­wertung in den letzten 300 Jahren verändert haben. Als Analysematerial dienen wissenschaft­liche und gesellschaft­liche De­batten, die über Affekte, Leiden­schaften, Empfin­dungen und Emo­tionen in Europa geführt wurden, in deren Zentrum Fragen stehen wie: Sind Gefüh­le geistiger oder körperlicher Natur? Haben Tiere Gefühle? Sind Männer gefühls­ärmer als Frauen? Gibt es kindische und erwach­sene Emotionen? Kann man Gefühle ,zivilisieren‘? Machen sie krank? Können Kollek­tive fühlen? Dass Gefühle wie auch Geschlechterrollen Be­wertungen unter­liegen, die eng mit den sozialen, kulturellen und politi­schen Struk­turen der jeweili­gen Gesell­schaften korres­pondieren und also nicht einfach nur natur­haft sind, ist ein Ergeb­nis der Forschun­gen der Gefühle. In der auch 2011 erschienen Mono­grafie fasst die Emotions­forscherin die Geschich­te der Gefühle in den drei Kapiteln Losing, Gendering und Finding Emotions unter der Frage­stellung: The Economy of Emotions: How it works and why it matters? zusammen.

Jan Plamper: Geschichte und Gefühl, 2012 (ZZF 24604)
Von 2008 bis 2012 arbeitete Jan Plamper als Dilthey Fellow am Max-Planck-Institut bei Ute Frevert. Zum Ende seines Aufent­haltes erschien seine Mono­grafie über die Grund­lagen der Emotions­geschichte. Im Mittel­punkt stehen Fra­gen, die auch auf dem DoktorandInnen­forum diskutiert wer­den: Wie ver­ändern sich Ehre im Laufe der Zeit, was be­deutet Ver­trauen in der Wirt­schafts­geschich­te, was richtete die sprich­wörtliche ,German Angst‘ im 20. Jahr­hundert an, und wieso be­finden wir uns im so­ge­nann­ten therapeutischen Zeit­alter?

Patrick Kury: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, 2012 (ZZF 24809)
Wenn Angst und Über­forderung zu viel werden, erleben das die meisten Menschen als Stress – oder als etwas, das sie so be­zeichnen. Tat­sächlich ist der Begriff relativ neu, das Gefühl dahinter aber sicher nicht. Patrick Kury erzählt die Geschichte des Stresses: von der Er­forschung orga­nischer Vor­gänge in den 1930er Jah­ren über die psycho­soziale Stress­forschung in den USA und Skandina­vien bis zur breiten Popularisie­rung des Stress­konzepts seit den 1970er-Jahren. Aktuell er­fährt der Stress im Krank­heits­bild des Burnouts Konjunk­tur. Heute sind Stress und Burn­out, so Patrick Kury, All­round­begriffe, mit denen sich die Aus­wirkun­gen des moder­nen Lebens auf den Einzel­nen kritisch be­schreiben lassen.

Luc Ciompi und Elke Endert: Gefühle machen Geschichte, 2011 (ZZF 22628)
Der Ver­knüpfung von poli­tischer Inszenie­rung und kollek­tiven Emotionen gehen die beiden AutorInnen in ihrem Essay nach und nehmen dabei die Zeitgeschichte „von Hitler bis Obama“ in den Blick. Sie konsta­tieren, dass die mediale Auf­bereitung von Natur­katastrophen, Krieg und Terror sowie politischen, sport­lichen und kultu­rellen Groß­ver­anstal­tungen in Fern­sehen, Radio und Inter­net jeden Tag neue Bilder kollek­tiver Wut, Angst oder Freude verbreiten. Die AutorInnen interessieren sich vor allem für die Macht der Wir-Gefühle im National­sozia­lismus, im Israel-Palästina-Konflikt und bei der Wahl Barack Obamas zum amerika­nischen Präsiden­ten und machen sich Gedanken darüber, welche Kon­sequenzen sich daraus für unser Menschen­bild, für die Krisenintervention, Mediation und die Be­handlung von kollek­tiven Traumata ergeben.

Oliver Grau und Andreas Keil: Mediale Emotionen, 2005 (ZZF 22468)
Wie Bilder und Klänge Emotionen anregen interessiert den Bildwissenschaftler Oliver Grau und den Kognitionsforscher Andreas Keil. In ihrem Sammelband, den sie als Beitrag zur „transdisziplinären Emotionsforschung“ verstanden wissen wollen, werden etwa Filme wie Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ und das Informations- und Rekrutierungs-Videospiel „America's Army“ analysiert auf ihre bewusste Lenkung von Gefühlen. Im Ergebnis plädiert Andreas Keil für eine „multivariante Emotionspsychologie in der affektiven Medienanalyse“, fragt aber auch zusammen mit Jens Eder, wie eine Netzwerktheorie der Emotionen mit den neuronalen Netzen der Neurowissenschaftler zusammenhängt – und kommt damit dem Anspruch an Transdisziplinarität recht nahe.

Bernd Greiner (Hg.): Angst im Kalten Krieg, 2009 (ZZF 21120)
Bernd Greiner, dessen Arbeiten zur Geschichte des Kalten Krieges einschlägig sind, und der heute Abend auch auf dem Podium des DoktorandInnenforums sitzen wird, ist Mitherausgeber dieses Bandes, der auf das emotionale Zen­trum des Kalten Krieges aufmerksam macht: die Angst vor Nuklear­waffen und das politi­sche Spiel mit der Angst – ‚Angst Haben‘ und ,Angst Machen‘. Gerade von den Mitteln, die größt­mögliche Sicher­heit gewähr­leisten sollten, ging maximale Gefahr aus. Wer glaub­würdig abschrecken wollte, musste den Gegner ein­schüchtern, ver­unsichern und ihm dauer­haft Rätsel auf­geben: Nie sollte er ein klares Bild von den eigenen Kapazi­täten und Ab­sichten ge­winnen, nie gewiss sein, wie weit die Be­rechen­bar­keit seines Gegen­übers reichte. Ob und wann die vor­sätzlich insze­nierte Un­gewiss­heit sich gegen ihre Urheber wenden, also just jene Aggressivität provo­zieren würde, die sie eigent­lich hätte unterdrücken sollen, geriet folg­lich zum hinter­gründigen Reizthema der Epoche.

Erhard Oeser: Die Angst vor dem Fremden, 2015 (ZZF 28399)
Eine anthropolo­gische Grund­konstante scheint die Angst vor dem Fremden zu sein, klingt durch das latei­nische Wort dafür: Xeno­phobie, eher nach Krank­heit als nach Konstruk­tion. Erhard Oeser untersucht die Wurzeln der Xeno­phobie vom Beginn der Menschheits­geschich­te bis zum Islamischen Staat und den An­schlägen in Paris 2015. Er analysiert die unter­schied­lichen Aus­prägungen von Xenophobie, spürt den Wende­punkten nach, an denen die Ablehnung des Fremden in Gewalt und den Wunsch zur Ver­nichtung um­schlägt. Und er sucht – als Philosoph – nach den Mechanis­men, die die Rück­kehr zu einem fried­lichen Mit­ein­ander er­möglichen.

Pierre-Frédéric Weber: Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945 – eine europäische Emotion im Wandel, 2015 (ZZF 26658)
Parallel zur Xeno­phobie bezeichnet Timor Teutonorum die Angst vor Deutsch­land und den Deutschen. Pierre-Frédéric Weber konsta­tiert, dass diese Angst eine der am tiefsten sitzenden kollek­tiven Emo­tionen in den Gesell­schaften Europas sei und sogar eine Schlüssel­rolle bei inter­natio­nalen politischen Ent­schei­dungen spiele. Seine Ana­lyse, die nach Konstruk­tion, Dauer­haftig­keit, Ab­bau, Reakti­vierung und poli­tischer Instrumen­tali­sierung des ambivalen­ten Timor Teutonorum fragt, konzentriert sich auf die beiden deut­schen Nachbar­staaten Frank­reich und Polen und damit auf einen west­lichen und einen öst­lichen Nach­barn.

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, 2014 (ZZF 28363)
Der Soziologe Heinz Bude geht davon aus, dass Angst zu der zentra­len sozialen Kraft geworden sei. Im Klappen­text heißt es: „Angst kenn­zeichnet eine Zeit, in der in Europa Populisten von rechts im An­marsch sind, in der sich unter ganz normalen Leuten Erschöpfungs­depressionen aus­breiten und in der der Kapitalis­mus von allen als Krisen­zusammen­hang erlebt wird. Angst ist der Ausdruck für einen Gesellschafts­zustand mit schwanken­dem Boden. Die Mehr­heits­klasse fühlt sich in ihrem sozia­len Status bedroht und im Blick auf ihre Zu­kunft gefährdet. Man ist von dem Empfinden be­herrscht, in eine Welt geworfen zu sein, die einem nicht mehr gehört.“ Die taz attestiert Heinz Bude mit diesem Buch „die Umrisse eines ‚post­demokratischen‘ und ‚post­säkularen‘ Un­behagens“ skizziert zu haben.

Wolfgang Koeppen: Angst, 1987 (SB/L, Ko1)
Ein literarisches Beispiel für eine alltags­beherrschen­de Angst findet sich in dem gleich­namigen Prosa­band von Wolfgang Koeppen zu finden in der Biblio­thek von Simone Barck, die in­zwischen voll­ständig im Katalog erschlossen ist. In der gleich­namigen Er­zählung von 1974, geht es um einen in New York leben­den Mann, der von der Angst vor einem gewalt­samen Tod besessen ist in einer Welt, die er nur als „sehr böse“ wahr­nehmen kann. Hilfe, Trost, Gemein­schaft ist gänzlich un­möglich: „Kaplan hatte Angst, er war krank vor Angst, und hätte sich gern von allen unter­schieden, die Angst hatten und ihm wider­lich waren. Wie sie sicherte er, nach Hause ge­kommen, die Tür. So dumm, so mißtrauisch, so vertrauens­voll in den Gang der Geschäfte noch immer wie sie. Es war nicht zu fassen.“


Es wünscht eine vergnügliche, erhellende und ganz und gar angst­freie Lek­türe,
das Bibliotheksteam

[1] http://www.magazin-metamorphosen.de/heft/

(16.02.2017)