Eine Pressemeldung von vorgestern drehte den virulenten Diskurs, dass Europa von zu vielen Flüchtlingen überrannt würde, ins makaber Absurde. Denn der Bürgermeister der griechischen Insel Lesbos wies darauf hin, dass es keinen Platz mehr auf der Insel gebe, um die gestrandeten toten Flüchtlinge zu beerdigen. Europa werde also von den Toten überschwemmt, die es nicht lebend auf den Kontinent geschafft haben... Aus diesem Anlass stellen wir Ihnen und Euch in unserem aktuellen Newsletter Bücher vor, die zum Reflektieren über das, was heute Flüchtlingskrise genannt wird, anregen. Denn nicht zuletzt aus der Zeitgeschichte lässt sich lernen, wie Migrationsbewegungen Gesellschaften prägen und verändern können und wie die (oft moralisierende) Konstituierung des Fremden davon ablenkt, über die Ursachen der Flüchtlingsströme nachzudenken.
Peter Gatrell: The Making of the Modern Refugee (ZZF 27028)
Vor zwei Wochen erst hat Kathrin Kollmeier auf H-SOZ-KULT dieses Buch mit den Worten rezensiert: „Mit seiner scharfen Reflexion und den präzisen Formulierungen setzt Gatrell ... neue Akzente. Insbesondere die Historisierung von Fluchterfahrungen, Flüchtlingsregimen und Flüchtlingsbegriffen ist ihm ein Anliegen. Es gelte, sie als spezifische Erfahrungen und Antworten in bestimmten Situationen zu deuten, nicht als anthropologische Muster menschlicher Bewegung oder gar Entwurzelung. ... Seinen Anspruch, Flüchtlingsgeschichte nicht als marginal zu verstehen, sondern als wichtigen Faktor in der Geschichte von Kriegen, Revolutionen und Staatenbildungen besonders des 20. Jahrhunderts, löst Peter Gatrell überzeugend ein.“ Die erste Auflage dieser Studie erschien 2013. Schon damals war mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung auf der Flucht.
Thomas Nail: The Figure of the Migrant (ZZF 27277)
In seiner Einleitung erklärt der Philosoph Thomas Nail wiederum das 21. Jahrhundert zum „Jahrhundert des Migranten“, denn niemals zuvor in der aufgezeichneten Geschichte habe es so viele MigrantInnen gegeben, über eine Billion seien es zur Zeit. In seiner als Bewegungsgeschichte angelegten, in diesem Jahr erschienenen Studie, die politische Theorie dezidiert als „a politics of movement“, als „kinopolitics“, reinterpretiert, untersucht Nail verschiedene Typen des Migranten, anhand einer spezifischen Gruppe, nämlich der MigrantInnen aus Mexiko in die USA, möchte aber sein theoretisches Konzept auch auf andere Migrationsphänomene angewendet wissen. Er stellt aber vor allem klar: „the figure of the migrant is not a ‚type of person’ or fixed identity but a mobile social position or spectrum that people move into and out of under certain social conditions of mobility”.
Wohin flüchten? (Kursbuch 183) (ZZF 27217)
Die 1965 von Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag gegründete Zeitschrift „Kursbuch“ galt einmal als ein wichtiger Publikationsort linker Theorie und Debattenkultur. Im zweiten Heft z. B. kritisierte Enzensberger 1965 in seinem Essay „Europäische Peripherie“, wie die westliche Welt sich abschotte, allein schon durch das Beharren auf den Kategorien „wir“ und „die“. 50 Jahre später und nach etlichen Verlagswechseln fragt das Kursbuch mit der Nr. 183: „Wohin flüchten?“ In zwölf von Armin Nassehi und Peter Felixberger herausgegebenen Beiträgen stellen Soziologen, Migrationsforscher und Journalisten wie Jochen Oltmer, Friedrich Kiesinger und Albert Scherr von durchaus unterschiedlichen politischen Standpunkten aus akute Fragen rund um Flucht, Abschiebung und Ankommen. Sogar die gute alte Tradition des Kursbogens haben die neuen Macher der alten Zeitschrift wieder aufgenommen. Der aktuelle Kursbogen zeigt die weltweiten Migrationsbewegungen bis 2014 auf.
Guy S. Goodwin-Gill: The Refugee in International Law (ZZF 23013)
Besonders hitzig wurde in den letzten Tagen und Wochen über die sogenannten Transitzonen gestritten. Ursprünglich ist mit Transitbereich der Bereich in internationalen Flughäfen gemeint, der es Reisenden ermöglicht, ohne in das Land des Flughafens einreisen zu müssen, in ein anderes Flugzeug umzusteigen. Entsprechend wurden in der Nähe von Flughäfen, wo eben auch Flüchtlinge landen, Transitzonen eingerichtet, in denen die Asylverfahren beschleunigt geprüft werden, bevor die Menschen das Land vermeintlich betreten. Diese in Deutschland seit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993 gängige Praxis wurde 1996 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewertet. Die Bundesregierung will am kommenden Freitag erneut über die Einrichtung von zusätzlichen Transitzonen an den Landesgrenzen diskutieren. Als Lektüre wäre ihr das Standardwerk von Guy S. Goodwin-Gill zu empfehlen, der bis zu seiner Emeritierung im vergangenen Jahr an der Universität Oxford Inhaber des einzigen Lehrstuhls für internationales Flüchtlingsrecht in Europa war.
Insa Breyer: Keine Papiere – keine Rechte? Die Situation irregulärer Migranten in Deutschland und Frankreich (ZZF 22903)
Vor 17 Jahren brachte der Musiker Manu Chao mit seiner ersten Soloplatte ganz Europa zum Tanzen. „Clandestino“ gehört seither zu den weltweit meistverkauften französischen Musikproduktionen überhaupt – und machte mit seinem Titelsong auf eine Menschengruppe aufmerksam, zu deren Überlebensstrategie es gehört, nicht wahrgenommen zu werden. Denn viele Flüchtlinge leben ohne Papiere und gesetzlich ungeschützt in Europa. In Frankreich heißen sie Sans-papiers, in Deutschland schlicht „Illegale“, im Spanischen eben Clandestino. „Begriffe zwischen Euphemismus und Kriminalisierung“, wie Breyer richtig anmerkt. In ihrer 2011 erschienenen Studie untersucht sie die rechtlichen Bedingungen und die Verhältnisse, unter denen die „Papierlosen“ leben. Sie hat Interviews geführt, sich die Unterkünfte zeigen lassen, die medizinische Versorgung angesehen und nach den Kontakten zur Bevölkerung gefragt. Ihr Fazit: Die Bedingungen für die Flüchtlinge sind in Deutschland und Frankreich zwar unterschiedlich, marginalisiert und ausgeschlossen sind sie aber in beiden Ländern.
Pierre Monforte: Europeanizing Contention. The Protest against „Fortress Europe“ in France and Germany (ZZF 26092)
In seiner im vergangenen Jahr erschienenen Studie untersucht Monforte die deutschen und französischen Pro-Asyl-Bewegungen seit Ende der 1990er Jahre. In der Darstellung ihrer Netzwerke und Aktionen analysiert der französische Soziologe den unterschiedlichen Grad und die Formen der Europäisierung, die sich in den verschiedenen Feldern des Protests widerspiegeln. Die Arbeit zeigt die vielfältigen Strategien, die von den Aktivisten angewandt werden und damit teilhaben an der Konstruktion einer europäischen Öffentlichkeit.
Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter (ZZF 1415)
Herberts Untersuchung aus dem Jahre 1986 gilt als Standardwerk. Der Band ist chronologisch aufgebaut und untersucht, beginnend mit dem Kaiserreich, als mit Begriffen wie „Leutemangel“ und „Überfremdungsgefahr“ über Immigration diskutiert wurde, wie sich innerhalb eines Jahrhunderts die Perspektive auf Menschen geändert hat, die dann in der alten Bundesrepublik „Gastarbeiter“ genannt wurden. Deutlich wird, dass Ausländer zu keiner Zeit vollständig willkommene Arbeitskräfte waren. Stets waren sie auch Objekte wirtschafts- und bevölkerungspolitischer Kalkulationen sowie Zielscheibe völkischer und rassistischer Diffamierungen. In der überarbeiteten Fassung, die unter dem Titel „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland“ 2001 erschien, thematisiert Herbert zudem die Entstehung der Asyldebatte, die Novellierung des Ausländerrechts und die Ausländerpolitik im wiedervereinten Deutschland. (ZZF 13521)
Christian König: Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration (ZZF 26486)
In seiner 2014 erschienenen sozial- und biographiegeschichtlichen Studie untersucht Christian König den Anteil der sogenannten Umsiedler am Aufbau der DDR. Zu diesen ca. vier Millionen Menschen, die als Flüchtlinge kamen oder eben aus dem inzwischen polnischen Staat in die sowjetische Besatzungszone umgesiedelt wurden, gehörten so Prominente wie Christa Wolf, Hans Modrow, Bernhard Heisig oder Manfred Ewald. Einerseits trafen sie auf Vorurteile und Anfeindungen, auch auf direkte Ablehnung, andererseits sahen sie sich Chancen und Integrationsangeboten gegenüber. In diesem Spannungsfeld mussten damalige Jugendliche und junge Erwachsene in der Aufbauzeit der DDR ihren Lebensweg suchen. Die materiellen und sozialen Verlusterfahrungen verflochten sich mit dem Aufbau einer neuen privaten und beruflichen Existenz in einem Land, das einen staatssozialistischen Transformationsprozess erlebte. Das Buch zeichnet über die Zäsuren von 1945/49 und 1989/90 hinweg Lebensgeschichten ‚normaler‘ Bürger und Personen des öffentlichen Lebens nach, untersucht die individuellen Verarbeitungsmuster der Fluchterfahrung und entwirft so das Profil einer wesentlichen Kohorte der DDR-Aufbaugeneration.
Zwischenräume. Displaced Persons, Internierte und Flüchtlinge in ehemaligen Konzentrationslagern (ZZF 26385)
Für Menschen, die sich kriegsbedingt außerhalb ihres Heimatlandes aufhalten und nicht ohne weiteres zurück können oder wollen, etablierte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Begriff „Displaced Persons“. Bald wurden auch Menschen jüdischer Herkunft so bezeichnet, die in verschiedenen europäischen Ländern aufgewachsen, von den Nationalsozialisten in Konzentrationslagern deportiert wurden und nun, nachdem sie die von den Nazis angestrebte Vernichtung überlebt hatten, ihr Leben neu beginnen mussten. Viele wurden von der United Nations Relief and Rehabilitation Administration in ihre Heimatländer zurückgeführt. 1,2 Millionen aber weigerten sich zurückzukehren und wanderten in den 1948 gegründeten Staat Israel aus oder blieben – oft als Staatenlose. Das letzte DP-Lager wurde 1957 geschlossen. Der 2010 erschienene Band „Zwischenräume“ aus der Reihe „Beiträge zur Geschichte der Nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“, die von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme herausgegeben wird, beschäftigt sich mit dieser Nachgeschichte der Konzentrationslager in Norddeutschland, wo von 1945 bis 1953 durch die Alliierten nicht nur Displaced Persons untergebracht, sondern auch NS-Funktionäre interniert wurden.
Gerard Daniel Cohen: In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order (ZZF 23258)
Zuständig für die Betreuung und Verteilung europäischer Displaced Persons war die International Refugee Organisation, eine UNO-Einrichtung, die von 1946 bis 1951 aktiv war. Cohen legte 2011 mit seiner Studie nicht nur eine Organisationsgeschichte vor, sondern fragte auch nach der Instrumentalisierung der DPs im politischen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegszeit und des beginnenden Kalten Krieges. Denn die Anwesenheit hunderttausender Menschen, die vor kurzem noch als Zwangsarbeiter und zu Vernichtende galten, zwang nicht nur zur Reflexion über die moralische Legitimität des eben aufgelösten sogenannten Dritten Reiches, sondern war auch ein sozioökonomisches Problem. Als „Fallstudie zur internationalen Geschichte nach 1945“ konzipiert, weist Cohen in seiner Studie nach, dass die Auseinandersetzungen um die DPs wesentlich zur Entwicklung des westlichen Menschenrechtsdiskurses.
(04.11.2015)