07/2015: Migration

Foto: Rosa-Maria Rinkl: Blick auf die Nordküste von Lesbos zwischen den Ortschaften Molivos und Sykaminia. Der Küstenstreifen ist voll von Schwimmwesten und Flüchtlingsbooten. Die Aufnahme stammt vom September 2015, CC-BY-SA-4.0

Bildinfo

Eine Presse­meldung von vorgestern drehte den virulen­ten Diskurs, dass Europa von zu vielen Flücht­lingen über­rannt würde, ins maka­ber Ab­surde. Denn der Bürger­meister der grie­chischen Insel Lesbos wies darauf hin, dass es keinen Platz mehr auf der Insel gebe, um die gestran­deten toten Flücht­linge zu be­erdigen. Europa werde also von den Toten über­schwemmt, die es nicht lebend auf den Kontinent geschafft haben... Aus diesem An­lass stellen wir Ihnen und Euch in unserem aktuellen News­letter Bücher vor, die zum Reflek­tieren über das, was heute Flücht­lings­krise genannt wird, anregen. Denn nicht zu­letzt aus der Zeit­geschichte lässt sich lernen, wie Migrations­bewegungen Gesell­schaf­ten prä­gen und verändern können und wie die (oft moralisierende) Konstituie­rung des Frem­den davon ab­lenkt, über die Ur­sachen der Flücht­lings­ströme nachzudenken.

Peter Gatrell: The Making of the Modern Refugee (ZZF 27028)
Vor zwei Wochen erst hat Kathrin Koll­meier auf H-SOZ-KULT dieses Buch mit den Worten rezensiert: „Mit seiner scharfen Reflexion und den präzisen Formulie­rungen setzt Gatrell ... neue Akzente. Ins­besondere die Histo­ri­sierung von Flucht­er­fahrun­gen, Flüchtlings­regimen und Flücht­lings­be­griffen ist ihm ein An­liegen. Es gelte, sie als spezifische Er­fahrungen und Ant­worten in be­stimmten Situa­tionen zu deuten, nicht als anthropolo­gische Muster mensch­licher Bewegung oder gar Ent­wurzelung. ... Seinen Anspruch, Flücht­lings­geschichte nicht als marginal zu verstehen, sondern als wich­tigen Faktor in der Geschich­te von Kriegen, Revolu­tionen und Staaten­bil­dungen be­sonders des 20. Jahr­hunderts, löst Peter Gatrell über­zeugend ein.“ Die erste Auf­lage dieser Studie erschien 2013. Schon damals war mehr als die Hälf­te der syrischen Bevöl­kerung auf der Flucht.

Thomas Nail: The Figure of the Migrant (ZZF 27277)
In seiner Ein­leitung erklärt der Philosoph Thomas Nail wiederum das 21. Jahr­hundert zum „Jahr­hundert des Migranten“, denn nie­mals zuvor in der auf­gezeich­neten Geschich­te habe es so viele MigrantInnen gegeben, über eine Billion seien es zur Zeit. In seiner als Bewegungs­geschichte an­ge­leg­ten, in diesem Jahr er­schienenen Studie, die poli­tische Theorie dezidiert als „a politics of movement“, als „kinopolitics“, re­interpretiert, untersucht Nail ver­schiedene Typen des Migranten, anhand einer spezifi­schen Gruppe, näm­lich der MigrantInnen aus Mexiko in die USA, möchte aber sein theore­tisches Konzept auch auf andere Migrations­phänomene an­ge­wendet wissen. Er stellt aber vor allem klar: „the figure of the migrant is not a ‚type of person’ or fixed identity but a mobile social position or spectrum that people move into and out of under certain social conditions of mobility”.

Wohin flüchten? (Kursbuch 183) (ZZF 27217)
Die 1965 von Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag gegründete Zeitschrift „Kursbuch“ galt einmal als ein wichtiger Publikations­ort linker Theorie und Debatten­kultur. Im zweiten Heft z. B. kritisierte Enzens­berger 1965 in seinem Essay „Europäische Peripherie“, wie die westliche Welt sich abschotte, allein schon durch das Be­harren auf den Kate­gorien „wir“ und „die“. 50 Jahre später und nach etlichen Verlags­wechseln fragt das Kurs­buch mit der Nr. 183: „Wohin flüchten?“ In zwölf von Armin Nassehi und Peter Felix­berger heraus­ge­ge­benen Bei­trägen stellen Soziologen, Migrations­forscher und Journalisten wie Jochen Oltmer, Friedrich Kiesinger und Albert Scherr von durchaus unterschied­lichen poli­tischen Stand­punkten aus akute Fragen rund um Flucht, Ab­schiebung und An­kommen. Sogar die gute alte Tradition des Kursbogens haben die neuen Macher der alten Zeitschrift wieder auf­ge­nommen. Der aktuelle Kurs­bogen zeigt die welt­weiten Migrations­bewegungen bis 2014 auf.

Guy S. Goodwin-Gill: The Refugee in International Law (ZZF 23013)
Besonders hitzig wurde in den letzten Tagen und Wochen über die sogenannten Transit­zonen gestritten. Ur­sprünglich ist mit Transit­bereich der Bereich in internationalen Flug­häfen gemeint, der es Reisenden er­möglicht, ohne in das Land des Flug­hafens einreisen zu müssen, in ein anderes Flug­zeug umzusteigen. Ent­sprechend wurden in der Nähe von Flug­häfen, wo eben auch Flücht­linge landen, Transitzonen eingerichtet, in denen die Asyl­verfahren beschleunigt ge­prüft werden, bevor die Menschen das Land vermeint­lich betreten. Diese in Deutsch­land seit dem sogenannten Asyl­kompromiss von 1993 gängige Praxis wurde 1996 vom Europäischen Gerichts­hof für Menschen­rechte als Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechts­konvention gewertet. Die Bundes­regierung will am kommenden Freitag erneut über die Ein­richtung von zusätz­lichen Transit­zonen an den Landesgrenzen diskutieren. Als Lektüre wäre ihr das Standardwerk von Guy S. Goodwin-Gill zu empfehlen, der bis zu seiner Emeritierung im ver­gangenen Jahr an der Univer­sität Oxford In­haber des einzigen Lehr­stuhls für internationa­les Flüchtlings­recht in Europa war.

Insa Breyer: Keine Papiere – keine Rechte? Die Situation irregulärer Migranten in Deutschland und Frankreich (ZZF 22903)
Vor 17 Jahren brachte der Musiker Manu Chao mit seiner ersten Solo­platte ganz Europa zum Tanzen. „Clandestino“ gehört seit­her zu den weltweit  meistverkauften französischen Musik­produktionen über­haupt – und machte mit seinem Titelsong auf eine Menschen­gruppe aufmerksam, zu deren Über­lebens­strategie es gehört, nicht wahr­genom­men zu wer­den. Denn viele Flücht­linge leben ohne Papiere und gesetz­lich un­geschützt in Europa. In Frank­reich heißen sie Sans-papiers, in Deutsch­land schlicht „Illegale“, im Spanischen eben Clandestino. „Begriffe zwischen Euphe­mismus und Kriminali­sierung“, wie Breyer richtig an­merkt. In ihrer 2011 erschienenen Studie unter­sucht sie die recht­lichen Bedin­gungen und die Ver­hältnisse, unter denen die „Papier­losen“ leben. Sie hat Inter­views geführt, sich die Unter­künfte zeigen lassen, die medizi­nische Ver­sor­gung an­ge­sehen und nach den Kontak­ten zur Bevölkerung gefragt. Ihr Fazit: Die Bedingungen für die Flücht­linge sind in Deutsch­land und Frank­reich zwar unter­schied­lich, marginalisiert und aus­geschlossen sind sie aber in beiden Ländern.

Pierre Monforte: Europeanizing Contention. The Protest against „Fortress Europe“ in France and Germany (ZZF 26092)
In seiner im ver­gangenen Jahr er­schienenen Studie untersucht Mon­forte die deut­schen und franzö­sischen Pro-Asyl-Bewegungen seit Ende der 1990er Jahre. In der Dar­stellung ihrer Netz­werke und Aktionen ana­lysiert der franzö­sische Soziologe den unter­schied­lichen Grad und die Fo­rmen der Europäi­sierung, die sich in den ver­schiedenen Feldern des Protests wider­spiegeln. Die Arbeit zeigt die viel­fäl­tigen Strategien, die von den Akti­visten angewandt werden und damit teil­haben an der Konstruk­tion einer euro­päischen Öffent­lich­keit.

Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter (ZZF 1415)
Herberts Unter­suchung aus dem Jahre 1986 gilt als Standard­werk. Der Band ist chronologisch auf­ge­baut und unter­sucht, beginnend mit dem Kaiserreich, als mit Be­griffen wie „Leutemangel“ und „Über­fremdungs­gefahr“ über Immigration dis­kutiert wurde, wie sich inner­halb eines Jahr­hunderts die Perspek­tive auf Menschen geändert hat, die dann in der alten Bundes­republik „Gast­arbeiter“ genannt wurden. Deut­lich wird, dass Ausländer zu keiner Zeit voll­ständig will­kommene Arbeits­kräfte waren. Stets waren sie auch Objekte wirt­schafts- und bevöl­kerungs­poli­tischer Kalkula­tionen sowie Ziel­scheibe völkischer und rassisti­scher Diffamierungen. In der über­arbeite­ten Fassung, die unter dem Titel „Geschichte der Ausländer­politik in Deutsch­land“ 2001 erschien, thema­tisiert Herbert zudem die Ent­stehung der Asyl­debatte, die Novellierung des Ausländer­rechts und die Ausländer­politik im wieder­verein­ten Deutsch­land. (ZZF 13521)

Christian König: Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration (ZZF 26486)
In seiner 2014 erschienenen sozial- und biographie­geschichtlichen Studie untersucht Christian König den An­teil der so­genannten Um­siedler am Aufbau der DDR. Zu diesen ca. vier Millionen Men­schen, die als Flücht­linge kamen oder eben aus dem in­zwischen polnischen Staat in die sowje­tische Be­satzungs­zone um­gesiedelt wur­den, ge­hörten so Promi­nente wie Christa Wolf, Hans Modrow, Bernhard Heisig oder Manfred Ewald. Einer­seits trafen sie auf Vor­urteile und An­feindungen, auch auf direkte Ab­lehnung, anderer­seits sahen sie sich Chancen und Inte­grations­an­geboten gegenüber. In diesem Spannungs­feld mussten damalige Jugend­liche und junge Er­wachsene in der Auf­bau­zeit der DDR ihren Lebens­weg suchen. Die materiellen und sozialen Ver­lust­erfahrun­gen ver­floch­ten sich mit dem Aufbau einer neuen privaten und beruf­lichen Existenz in einem Land, das einen staats­sozialistischen Trans­formations­prozess erlebte. Das Buch zeichnet über die Zäsuren von 1945/49 und 1989/90 hinweg Lebensgeschichten ‚normaler‘ Bürger und Personen des öffent­lichen Lebens nach, untersucht die individuellen Ver­arbeitungsmuster der Flucht­er­fahrung und ent­wirft so das Profil einer wesent­lichen Ko­horte der DDR-Auf­bau­genera­tion.

Zwischenräume. Displaced Persons, Internierte und Flüchtlinge in ehemaligen Konzentrationslagern (ZZF 26385)
Für Menschen, die sich kriegs­bedingt außer­halb ihres Heimat­landes auf­halten und nicht ohne weiteres zurück können oder wollen, etablierte sich in der un­mittel­baren Nach­kriegszeit der Begriff „Displaced Persons“. Bald wurden auch Menschen jüdi­scher Her­kunft so be­zeichnet, die in ver­schiedenen euro­päischen Ländern auf­gewachsen, von den National­sozialisten in Kon­zentrations­la­gern de­portiert wurden und nun, nachdem sie die von den Nazis angestrebte Vernichtung überlebt hatten, ihr Leben neu be­ginnen muss­ten. Viele wurden von der United Nations Relief and Re­habili­tation Administra­tion in ihre Heimat­länder zurück­geführt. 1,2 Millionen aber wei­gerten sich zurück­zukehren und wander­ten in den 1948 ge­gründeten Staat Israel aus oder blieben – oft als Staaten­lose. Das letzte DP-Lager wurde 1957 ge­schlossen. Der 2010 erschienen­e Band „Zwischen­räume“ aus der Reihe „Beiträge zur Geschichte der National­sozialisti­schen Ver­folgung in Nord­deutschland“, die von der KZ-Gedenk­stätte Neuen­gamme heraus­gegeben wird, be­schäftigt sich mit dieser Nach­geschich­te der Konzentrations­lager in Nord­deutschland, wo von 1945 bis 1953 durch die Alliierten nicht nur Displaced Persons unter­ge­bracht, sondern auch NS-Funktio­näre inter­niert wur­den.

Gerard Daniel Cohen: In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order (ZZF 23258)
Zuständig für die Betreuung und Ver­teilung europäi­scher Displaced Persons war die International Refugee Organisation, eine UNO-Einrich­tung, die von 1946 bis 1951 aktiv war. Cohen leg­te 2011 mit seiner Studie nicht nur eine Organi­sations­geschichte vor, son­dern fragte auch nach der Instru­menta­lisierung der DPs im politi­schen Diskurs der un­mittel­baren Nach­kriegs­zeit und des be­ginnenden Kalten Krieges. Denn die An­wesen­heit hundert­tausender Men­schen, die vor kurzem noch als Zwangs­arbeiter und zu Ver­nichtende galten, zwang nicht nur zur Reflexion über die mora­lische Legitimi­tät des eben auf­gelösten so­genann­ten Dritten Reiches, sondern war auch ein sozio­ökonomisches Problem. Als „Fall­studie zur internationalen Geschich­te nach 1945“ konzipiert, weist Cohen in seiner Studie nach, dass die Auseinan­der­setzungen um die DPs wesentlich zur Entwicklung des west­lichen Menschen­rechts­diskurses.

(04.11.2015)