Kennen Sie den derzeit weltweit angesagtesten Club Berlins? Wenn Sie schon einmal dort waren, im Berghain, dann sind Sie wahrscheinlich auch an Sven Marquardt vorbeigekommen. Der Türsteher ist nicht nur wegen seiner Piercings und Ganzkörpertattoos eine imposante Persönlichkeit, sondern auch als Fotograf subkultureller Welten bekannt. 1962 geboren, war Marquardt Teil der Punk-Szene der DDR und als Fotograf auch ihr Chronist. Nach der Wende begann er seine zweite Karriere als Türsteher, aber seit 2003 fotografiert er wieder. Ab heute und bis zum 18.10.2015 ist in der Galerie Kunstraum des Waschhaus e.V. in Potsdam eine Personalausstellung des enfant terrible zu sehen, immer von Mittwoch bis Sonntag von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr. Der Eintritt ist frei, auch gibt es keine Kontrollen am Eingang. Der bekannte Türsteher ist nur eingerahmt und in Farbe anwesend. Es gibt ja auch keinen Grund, jemanden vom Besuch der Ausstellung abzuhalten. Im Gegenteil! Und auch, wenn bei uns in wenigen Tagen die elektronischen Türsteher aktiviert werden, zu uns darf jede/r kommen, der z. B. Bildbände sichten möchte, egal welche Kleiderordnung Sie bevorzugen....
Sven Marquardt: Wild verschlossen (4° ZZF 27071)
Die ältesten Bilder in diesem vor einem halben Jahr erschienen Band sind von 1984, die jüngsten von 2014. Marquardt fotografierte in der Vorwendezeit nicht, wie so viele andere, das marode Stadtbild Ost-Berlins. Ihn interessierten schon immer Menschen, vor allem die Selbstdarsteller in ihrer ganz eigenen Exzentrik und noch eins: „Liebe? Liebe!? Liebe!!!“, in ihren vielen Variationen. Anfänglich porträtierte Sven Marquardt vor allem sein soziales Umfeld. Dabei ist er geblieben. Seine heutigen Models sind DJs, Türsteher, KünstlerInnen und Außenseiter, die er nach wie vor in aufwendigen Inszenierungen ablichtet. Der Band versammelt 100 Porträts in strengem Schwarz-Weiß, eingebunden in leuchtend pinkes Leinen. Auch ein Statement.
Sven Marquardt: Zukünftig vergangen (4° ZZF 21390)
Zu dem 2012 erschienenen Bildband schrieb Bernd Heimberger: „Das Sichöffnen der Person gegenüber dem Fotografen ist das Erlebnis, das die Fotografien von Sven Marquardt zu einem Ereignis macht. Das war so, das ist so. Es wurde Zeit, das wieder einmal zu sehen, also den Künstler wieder zu entdecken, der in den Fotografien seine Geschichten von der Begegnung mit Menschen erzählt. Alles, was Marquardt sehen will – sehen kann – ist bereits in den Bildern des Vorjahrhunderts. Im Anfang ist alles angelegt. Sichtbare Geschlechtlichkeit ist immer der Geschlechtslosigkeit nah. Lebendigkeit ist nie ohne die Sterblichkeit zu sehen. In jeder schuldlosen Pose ist Schuld, die in den deutlichen wie undeutlichen, ernsten, skulpturalen Gesichtern ist.“
Sven Marquardt: Nacht ist Leben (ZZF 25886)
Ganz so würde sich Sven Marquadt vermutlich nicht ausdrücken. Tatsächlich hat er im letzten Jahr der Enkelin von Erwin Strittmatter, Judka Strittmatter, seine Lebensgeschichte erzählt. Die so entstandene Autobiografie beleuchtet die Vorgeschichte des Zerberus der Berliner Ausgehkultur. Marquard wuchs in Pankow auf, schwänzte früh die Schule und wurde schon als Teenager zum Alkoholiker. Helga Paris, die renommierte Fotografin, wurde sein Rettungsanker, noch heute bezeichnet er sie als seine Mentorin. In die Lehre ging er in Babelsberg bei der DEFA. Nach der Wende war er zunächst Schuhverkäufer, bevor ihn die Techno-Welle ergriff. Als Türsteher wurde er Teil auch dieser Szene, der erste Club, den er bewachte, war ein umfunktionierter Schuhladen.
Robert Paris: Entschwundene Stadt. Berlin 1980 – 1989 (4° ZZF 27130)
1982 lernt Sven Marquardt die Familie Paris kennen, die Fotografin Helga Paris und ihre Kinder Jenny und Robert. Mit dem Sohn, der genauso alt ist wie er selbst, verbindet ihn schnell eine enge Freundschaft. Zusammen ziehen sie durch die schwule Subkultur und die Kneipen des Prenzlauer Berges. Und beide fotografieren. Wie Sven Marquardt macht Robert Paris eine Lehre als Fotograf und arbeitet als Laborant bei seiner Mutter. Vor zwei Jahren erschien dieser Band, der die Streifzüge durch die verfallenen Straßen Ostberlins dokumentiert, zu sehen sind der verwaiste Potsdamer Platz, bröckelnde Fassaden in der Fehrbelliner Straße, menschenleere Bahnhöfe, zugenagelte Türen sowie das alte Gaswerk in der Dimitroffstraße vor, während und nach der Sprengung. Anders als Sven Marquardt interessiert sich Robert Paris für die verlebten Gesichter von Orten.
Helga Paris: Fotografie (4° ZZF 24576)
Eigentlich hat Helga Paris, geboren 1938, Modegestaltung studiert; da ihr Interesse für die Fotografie jedoch immer größer wurde, begann sie als Fotolaborantin zu arbeiten, um sich Ende der 60er Jahre als freischaffende Fotografin zu etablieren. Nicht nur für Sven Marquardt wurde sie eine wichtige Mentorin und künstlerisches Vorbild. „Ihre Auseinandersetzung mit meinen Bildern und ihre Arbeit als Fotografin haben mich wohl stark geprägt!?“, gibt Marquardt zögernd zu. Der Band dokumentiert ihr Lebenswerk.
Sibylle Bergemann: Photographien (4° ZZF 21391)
Ein anderes wichtiges Vorbild für Sven Marquardt war die vor vier Jahren verstorbene Modefotografin Sibylle Bergemann, die zu den wichtigsten deutschen Fotografinnen der Gegenwart zählt. „Ich halte sie für eine der bedeutendsten ostdeutschen Fotografinnen“, sagt auch Sven Marquardt. „Ich liebe ihre Bilder. Diese Melancholie… Die sie, darauf angesprochen, niemals so recht wahrhaben wollte!? Ich glaube, sie hat vielleicht Melancholie als eine Art Makel empfunden!?“ Der Ausstellungsband stellt ihr Gesamtwerk vor, dessen Spektrum Mode, Reportage, Essay, Landschaft, Stadtlandschaft und Porträt umfasst.
Sibylle: Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR (ZZF 9004)
Sibylle Bergemann hat seit 1973 wesentlich die DDR-Modezeitschrift geprägt, die ihren Vornamen trug, aber schon 1956 gegründet wurde. Durch ihre Vermittlung hat auch Sven Marquardt kurzzeitig für die „Sibylle“ gearbeitet. Wegen seines extrovertierten Äußeren musste er sich jedoch heimlich außerhalb der Bürozeiten mit dem Taxi in die Redaktion fahren lassen. Der Band stellt die FotografInnen der Zeitschrift vor, die sich im Untertitel „Zeitschrift für Mode und Kultur“ nannte, mit Bildern und einem Kurzinterview über ihre Erinnerungen an ihre Zeit bei der „Sibylle“. Die 13 Bilder von Sven Marquardt sind mehrheitlich im „Eigenauftrag“ entstanden und zeigen vor allem die extravaganten Kleidermodelle des Designerkollektivs Allerleirauh.
Geschlossene Gesellschaft (4° ZZF 24071)
Der Band, der den Anspruch hat, die erste umfassende Publikation zur künstlerischen Fotografie in der DDR zu sein, präsentiert neben Sven Marquardt 33 weitere Künstler. Die ausgewählten Positionen vermitteln die wichtigsten Entwicklungsstränge der Fotografie in der DDR: Montage und Experiment, Dokumentarismus und Sozialreportage sowie die junge Fotografie der 1980er-Jahre. Presse-, Mode- und Werbefotografie wurden bewusst von den Kuratoren ausgeklammert, um vermeintlich Propaganda von Kunst zu scheiden. Der Querschnitt zeigt die sehr heterogenen künstlerischen Positionen von FotografInnen in der DDR und lädt ein, Vergessenes, Übersehenes oder eben gut Erinnertes wiederzuentdecken.
Matthias Leupold: Die Vergangenheit hat erst begonnen. Szenische Photographien 1983 – 1999 (4° ZZF 23567)
Zu den Fotografen, die in der „Geschlossenen Gesellschaft“ präsentiert werden, gehört auch Matthias Leupold. Das Buchcover des Bildbandes zeigt eine Aktion aus dem Jahre 1983. Leupold besuchte mit einigen Freunden die Kinovorführung eines russischen 3D-Films – alle Zuschauer tragen Brillen und starren wie gleichgeschaltet auf die Leinwand – als Leupold einen Bekannten mittendrin aufstehen und die 3D-Brille abnehmen lässt. Wie zum Aufschrei hält er die Hände an den Mund, auf einem weiteren Bild hält er sich eine Pistole an die Schläfe. Vier Aufnahmen konnte Leupold machen, bevor die Freundesclique aus dem Kino flog. Die Bildserie „Im Kino“ erlangte Kult-Status und wurde zum Symbol der staatsfernen Kunstszene. Leupold, geboren 1959, arbeitet seit 1985 als freischaffender Fotograf in der DDR. 1986 stellte er einen Ausreiseantrag. Seit 2007 ist er Professur für künstlerische Fotografie und digitale Bildmedien an der Berliner Technischen Kunsthochschule.
Too much future – Punk in der DDR (ZZF 21033)
Auch wenn Sven Marquardt keine Erwähnung findet, bietet der Band doch einen komplexen Überblick über die vielschichtige Punkszene der DDR und damit über den Hintergrund von Marquardts Schaffen. Zu den Autoren gehören u. a. der Schriftsteller und Kneipenbetreiber Bert Papenfuß, die Malerin Cornelia Schleime und auch der ZZF-Mitarbeiter Bodo Mrozek. Die Texte behandeln die Anfänge der Punkbewegung, die seltsame Konstellation von Punk und Kirche in der DDR, die Repressionsgeschichte durch die Verfolgung seitens der Staatssicherheit sowie die Wechselwirkung von Punk und dem (übrigen) Kunst-Underground.
(18.09.2015)