06/2015: Sven Marquardt

Foto: Michael Mayer: Der Berliner Club Berghain im Winter 2016, CC-BY-2.0

Bildinfo

Kennen Sie den derzeit weltweit an­ge­sagtesten Club Berlins? Wenn Sie schon einmal dort waren, im Berg­hain, dann sind Sie wahr­schein­lich auch an Sven Marquardt vorbei­gekommen. Der Tür­steher ist nicht nur wegen seiner Piercings und Ganz­körper­tattoos eine imposante Per­sön­lich­keit, son­dern auch als Foto­graf sub­kultureller Wel­ten bekannt. 1962 ge­boren, war Marquardt Teil der Punk-Szene der DDR und als Foto­graf auch ihr Chronist. Nach der Wende begann er seine zweite Karriere als Tür­steher, aber seit 2003 foto­grafiert er wieder. Ab heute und bis zum 18.10.2015 ist in der Galerie Kunstraum des Wasch­haus e.V. in Potsdam eine Personal­aus­stellung des enfant terrible zu sehen, immer von Mittwoch bis Sonn­tag von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr. Der Ein­tritt ist frei, auch gibt es keine Kontrollen am Ein­gang. Der be­kannte Tür­steher ist nur ein­ge­rahmt und in Farbe an­wesend. Es gibt ja auch keinen Grund, jeman­den vom Besuch der Aus­stellung ab­zu­hal­ten. Im Gegen­teil! Und auch, wenn bei uns in wenigen Tagen die elektro­nischen Tür­steher akti­viert werden, zu uns darf jede/r kommen, der z. B. Bild­bände sichten möch­te, egal welche Kleider­ordnung Sie bevor­zugen....

Sven Marquardt: Wild verschlossen (4° ZZF 27071)
Die ältesten Bilder in diesem vor einem hal­ben Jahr erschienen Band sind von 1984, die jüngsten von 2014. Marquardt foto­grafierte in der Vor­wende­zeit nicht, wie so viele andere, das marode Stadt­bild Ost-Berlins. Ihn interessier­ten schon immer Menschen, vor allem die Selbst­dar­steller in ihrer ganz eigenen Exzentrik und noch eins: „Liebe? Liebe!? Liebe!!!“, in ihren vielen Variationen. An­fäng­lich por­trätier­te Sven Marquardt vor allem sein sozia­les Um­feld. Dabei ist er ge­blieben. Seine heuti­gen Models sind DJs, Tür­steher, KünstlerInnen und Außen­seiter, die er nach wie vor in auf­wendigen Ins­zenie­rungen ablichtet. Der Band ver­sammelt 100 Porträts in strengem Schwarz-Weiß, ein­ge­bunden in leuchtend pinkes Leinen. Auch ein Statement.

Sven Marquardt: Zukünftig vergangen (4° ZZF 21390)
Zu dem 2012 erschie­nenen Bild­band schrieb Bernd Heimberger: „Das Sichöffnen der Person gegen­über dem Foto­grafen ist das Erlebnis, das die Foto­grafien von Sven Marquardt zu einem Ereig­nis macht. Das war so, das ist so. Es wurde Zeit, das wieder einmal zu sehen, also den Künst­ler wieder zu ent­decken, der in den Foto­grafien seine Geschich­ten von der Begeg­nung mit Menschen erzählt. Alles, was Marquardt sehen will – sehen kann – ist bereits in den Bildern des Vor­jahr­hunderts. Im An­fang ist alles angelegt. Sicht­bare Geschlecht­lich­keit ist immer der Geschlechts­losig­keit nah. Lebendig­keit ist nie ohne die Sterb­lichkeit zu sehen. In jeder schuld­losen Pose ist Schuld, die in den deut­lichen wie un­deut­lichen, ernsten, skulpturalen Gesich­tern ist.“

Sven Marquardt: Nacht ist Leben (ZZF 25886)
Ganz so würde sich Sven Marquadt ver­mutlich nicht aus­drücken. Tat­sächlich hat er im letzten Jahr der Enkelin von Erwin Stritt­matter, Judka Stritt­matter, seine Lebens­geschich­te er­zählt. Die so ent­standene Auto­biografie beleuchtet die Vor­geschich­te des Zerberus der Berliner Aus­geh­kultur. Marquard wuchs in Pankow auf, schwänzte früh die Schule und wurde schon als Teenager zum Alko­holiker. Helga Paris, die renommierte Foto­grafin, wurde sein Rettungs­anker, noch heute bezeichnet er sie als seine Mentorin. In die Lehre ging er in Babelsberg bei der DEFA. Nach der Wen­de war er zunächst Schuh­verkäufer, bevor ihn die Techno-Welle ergriff. Als Tür­steher wurde er Teil auch dieser Szene, der erste Club, den er be­wach­te, war ein um­funktionier­ter Schuh­laden.

Robert Paris: Entschwundene Stadt. Berlin 1980 – 1989 (4° ZZF 27130)
1982 lernt Sven Marquardt die Familie Paris kennen, die Foto­grafin Helga Paris und ihre Kinder Jenny und Robert. Mit dem Sohn, der genau­so alt ist wie er selbst, ver­bindet ihn schnell eine enge Freund­schaft. Zusammen ziehen sie durch die schwule Sub­kultur und die Knei­pen des Prenz­lauer Berges. Und beide foto­grafieren. Wie Sven Marquardt macht Robert Paris eine Lehre als Foto­graf und arbeitet als Laborant bei seiner Mutter. Vor zwei Jahren er­schien dieser Band, der die Streif­züge durch die ver­fallenen Straßen Ost­berlins dokumen­tiert, zu sehen sind der ver­waiste Potsdamer Platz, bröckeln­de Fassaden in der Fehr­belliner Straße, menschen­leere Bahnhöfe, zu­genagel­te Türen sowie das alte Gaswerk in der Dimitroff­straße vor, während und nach der Sprengung. Anders als Sven Marquardt interessiert sich Robert Paris für die ver­lebten Gesich­ter von Orten.

Helga Paris: Fotografie (4° ZZF 24576)
Eigentlich hat Helga Paris, geboren 1938, Mode­gestaltung studiert; da ihr Interesse für die Foto­grafie jedoch immer größer wurde, begann sie als Foto­laborantin zu arbeiten, um sich Ende der 60er Jahre als frei­schaffende Foto­grafin zu etablieren. Nicht nur für Sven Marquardt wurde sie eine wichti­ge Mentorin und künst­lerisches Vor­bild. „Ihre Auseinan­der­setzung mit meinen Bildern und ihre Arbeit als Fotografin haben mich wohl stark geprägt!?“, gibt Marquardt zögernd zu. Der Band dokumentiert ihr Lebens­werk.

Sibylle Bergemann: Photographien (4° ZZF 21391)
Ein anderes wichtiges Vor­bild für Sven Marquardt war die vor vier Jahren ver­storbene Mode­foto­grafin Sibylle Berge­mann, die zu den wichtigsten deutschen Foto­grafinnen der Gegen­wart zählt. „Ich halte sie für eine der be­deutendsten ostdeutschen Foto­grafinnen“, sagt auch Sven Marquardt. „Ich liebe ihre Bilder. Diese Melan­cholie… Die sie, darauf an­ge­sprochen, niemals so recht wahr­haben wollte!? Ich glaube, sie hat viel­leicht Melan­cholie als eine Art Makel empfunden!?“ Der Aus­stellungs­band stellt ihr Gesamt­werk vor, dessen Spektrum Mode, Reportage, Essay, Land­schaft, Stadt­landschaft und Porträt umfasst.

Sibylle: Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR (ZZF 9004)
Sibylle Bergemann hat seit 1973 wesentlich die DDR-Modezeitschrift geprägt, die ihren Vornamen trug, aber schon 1956 gegründet wurde. Durch ihre Vermittlung hat auch Sven Marquardt kurzzeitig für die „Sibylle“ gearbeitet. Wegen seines extrovertierten Äußeren musste er sich jedoch heim­lich außer­halb der Büro­zeiten mit dem Taxi in die Redak­tion fahren lassen. Der Band stellt die Foto­grafInnen der Zeit­schrift vor, die sich im Unter­titel „Zeit­schrift für Mode und Kultur“ nann­te, mit Bildern und einem Kurz­interview über ihre Erinnerun­gen an ihre Zeit bei der „Sibylle“. Die 13 Bil­der von Sven Marquardt sind mehrheit­lich im „Eigen­auftrag“ ent­standen und zeigen vor allem die extra­vaganten Kleider­modelle des Designer­kollektivs Allerleirauh.

Geschlossene Gesellschaft (4° ZZF 24071)
Der Band, der den Anspruch hat, die erste um­fassende Publi­kation zur künst­lerischen Foto­grafie in der DDR zu sein, präsen­tiert neben Sven Marquardt 33 wei­tere Künstler. Die aus­ge­wähl­ten Positionen vermitteln die wichtigsten Ent­wicklungs­stränge der Foto­grafie in der DDR: Mon­tage und Ex­periment, Dokumen­tarismus und Sozial­reportage sowie die junge Foto­grafie der 1980er-Jahre. Presse-, Mode- und Werbe­foto­grafie wur­den be­wusst von den Kuratoren aus­ge­klammert, um vermeint­lich Propa­ganda von Kunst zu schei­den. Der Quer­schnitt zeigt die sehr hetero­genen künst­lerischen Posi­tio­nen von Foto­grafInnen in der DDR und lädt ein, Ver­gessenes, Über­sehenes oder eben gut Erinnertes wieder­zu­entdecken.

Matthias Leupold: Die Vergangenheit hat erst begonnen. Szenische Photographien 1983 – 1999 (4° ZZF 23567)
Zu den Foto­grafen, die in der „Geschlossenen Gesell­schaft“ präsentiert werden, gehört auch Matthias Leupold. Das Buch­cover des Bild­bandes zeigt eine Aktion aus dem Jahre 1983. Leupold besuch­te mit einigen Freunden die Kino­vor­führung eines russischen 3D-Films – alle Zuschauer tragen Brillen und starren wie gleich­geschaltet auf die Lein­wand – als Leupold einen Be­kannten mitten­drin auf­stehen und die 3D-Brille abnehmen lässt. Wie zum Auf­schrei hält er die Hän­de an den Mund, auf einem weiteren Bild hält er sich eine Pistole an die Schläfe. Vier Auf­nahmen konnte Leupold machen, bevor die Freundes­clique aus dem Kino flog. Die Bild­serie „Im Kino“ erlangte Kult-Status und wurde zum Symbol der staatsfernen Kunst­szene. Leupold, geboren 1959, arbeitet seit 1985 als frei­schaffen­der Foto­graf in der DDR. 1986 stellte er einen Aus­reise­antrag. Seit 2007 ist er Professur für künstlerische Foto­grafie und digitale Bild­medien an der Berliner Technischen Kunst­hoch­schule.

Too much future – Punk in der DDR (ZZF 21033)
Auch wenn Sven Marquardt keine Er­wähnung findet, bietet der Band doch einen komplexen Über­blick über die viel­schichtige Punk­szene der DDR und damit über den Hinter­grund von Marquardts Schaffen. Zu den Autoren gehören u. a. der Schrift­steller und Kneipen­betreiber Bert Papenfuß, die Malerin Cornelia Schleime und auch der ZZF-Mit­arbeiter Bodo Mrozek. Die Texte be­handeln die An­fänge der Punk­bewegung, die seltsame Konstellation von Punk und Kirche in der DDR, die Repressions­geschich­te durch die Ver­folgung seitens der Staats­sicherheit sowie die Wechsel­wirkung von Punk und dem (übrigen) Kunst-Underground.

(18.09.2015)