13/2020: Radioarchive

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Im Home Office verkleinert sich die Welt auf die Größe eines Schreibtischglobus. Reisen in ferne Länder sind zur Zeit nur noch mit dem Finger auf dem rotierenden Erdball erlaubt. Aber es gibt ein Gerät, das seit nun schon hundert Jahren die ganze Welt in das eigene Zimmer bringen kann: das Radio. Mit dem Finger am Tuning-Rad lässt sich durch den Äther surfen, früher war es der Kurzwellenbereich, der einen Sendungen aus weit entfernten Ländern ans Ohr brachte. Heute ist es das Internet.
Das Radio bringt aber nicht nur viele verschiedene Stimmen, Klänge und Nachrichten ins eigene Zimmer, sondern ist immer noch die zuverlässigste Informationsquelle, denn UKW funktioniert auch dann noch, wenn es keinen Strom (also auch kein Internet) mehr geben sollte. Werfen Sie also Ihre Radiogeräte nicht fort und prüfen Sie lieber, ob noch ausreichend Batterien vorhanden sind!
Derweil habe ich mal im Internet gestöbert, was es denn so an Radioarchiven und spannenden Radiostationen für Zeithistoriker*innen zu entdecken gibt. Ich verspreche akustische Welt- und Zeitreisen....

Wußten Sie, dass die British Library die Homebase des nationalen Sound Archives ist? 6,5 Millionen Aufnahmen werden dort gesichert. Dazu gehört auch das National Radio Archive, das aber nicht nur Sendungen der BBC, sondern auch die von Community Radio Stationen archiviert. Es soll gut 700 Radiosender auf der Insel geben. Das Archive ist noch im Aufbau, aber das Ziel ist es „to create a digital radio archive which will preserve a representative proportion of ongoing UK radio output.“ Es gibt schon einen Blog, der fast täglich akustische Funde präsentiert. Besonders gefallen hat mir mir ein Blogeintrag über die Notwendigkeit, Bücher abzustauben

Apropos Großbritannien. Einer der einflussreichsten Radio-DJs überhaupt war John Peel. Anfang der 60er begann der Engländer in den USA bei kleinen lokalen Radiosendern zu moderieren, aber berühmt wurde er, als er 1967 in einem Piratensender die Sendung „The Perfumed Garden“ moderierte. Das war nämlich so: Die wirklich coole Rockmusik wollte die BBC nicht spielen, also schickten einige Enthusiastinnen von Schiffen aus die neue Beatmusik durch den Äther auf die Insel und machte die Jugend süchtig nach diesen Klängen.
John Peel blieb allerdings musikalisch nie stehen, er hat einfach immer weiter nur die Musik in seinen Radioshows gespielt, die neu und cool war. Egal ob Punk oder Reggae, ob bulgarische Frauenchöre oder Jimmy Hendrix. Andy Linehan, British Library Sound Archive's Curator of Popular Music, bemerkte mit Blick auf Peels Plattensammlung, sie sei „legendär, einzigartig und atemberaubend, ein Stück Zeitgeschichte“. Eben! Tatsächlich ist die Plattensammlung archiviert und kann hier besichtigt werden. Auch ein Großteil seiner Radiosendungen wurde digitalisiert. Die Qualität der Aufnahmen ist sehr unterschiedlich, aber hey, unter der Bettdecke klang der Monokassettenrekorder damals in den 1980ern auch nicht viel besser.

Radiogeschichte geschrieben hat auch ein anderer in ganz anderer Weise, nämlich Orson Welles. Ja, genau der, der mit so großartigen Filme wie „Der Prozeß“, „Citizen Kane“ und „Der dritte Mann“ Filmgeschichte geschrieben hat. Bevor Welles als Filmregisseur und Schauspieler über New York hinaus wahrgenommen wurde, arbeitete er für das Theater – und für das Radio. Sein Hörspiel „Krieg der Welten“ (1938, nach einem Buch von H. G. Wells) war so gut inszeniert, dass einige Hörer*innen tatsächlich an eine Invasion von Außerirdischen glaubten und voller Panik beim Sender anriefen. Überprüfen können Sie die Wirkung der Radioinszenierung an sich selbst und zwar hier.
Und wenn Sie dann erstmal eingetaucht sind in den Zeittunnel und dem Sound aus den Anfängen des Radios verfallen sind, können Sie gleich dranbleiben. Die Macher*innen der Webseite Relic Radio verstehen sich als Archäologen des klassischen Radio Dramas. Entsprechend präsentieren sie nicht nur mehr als 200 weitere Shows von Orson Welles, sondern noch viele andere Fundstücke aus den 20er bis 60er Jahren der Radiogeschichte.

Kurz nach 1938 begann ja tatsächlich bald ein Krieg, dem sich auch die USA nicht entziehen konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Kalten Krieg, der auch im Äther tobte. Eine wichtige Rolle spielte das Radio Free Europe, dessen erste Station 1950 ihren Sendebetrieb in München aufnahm. Vom Kongress der Vereinigten Staaten finanziert, sah die Sendeanstalt von RFE ihren Auftrag darin, die Menschen in den sogenannten Ostblockländern mit Nachrichten aus dem Westen zu versorgen. Anders als die sogenannten Soldatensender der Allierten, die vor allem zur Unterhaltung der Soldaten installiert wurden, waren die Sender von RFE, später Radio Liberty ausdrücklich als Nachrichtensender konzipiert. Gesendet wurde in der Sprache des Ziellandes. Diese wehrten sich entsprechend mit Störsendern.
Das Hoover Institut in Stanford stellt einige Sendungen von Radio Free Europe online zur Verfügung. Wenn ich richtig recherchiert habe, sind es über 7000. Nachgehört werden kann etwa die Sendung „What do they really think of us?“ von 1951. In einem viertelstündigen Radiofeature werden u.a. tschechoslowakische Exilant*inen nach ihrer Perspektive auf die USA befragt. Mich überrascht, wie sehr sich der Bericht den dramaturgischen Mittel des Radiohörspiels bedient. Teilweise hört es sich an wie die Inszenierung eines Horrorromans.  
Das Hoover Institut wurde vor 100 Jahren gegründet und gilt als konservative Denkfabrik. Das umfangreiche Archiv konzentriert sich auf Quellen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Eine digitalisierte Sammlung von über 70.000 Sendemanuskripten bieten die Open Society Archives in Budapest. In der ZZF-Bibliothek haben wir übrigens einen großen und relativ einmaligen Bestand an Sendemanuskripten archiviert (vgl. Z 90 und Z 643 bis Z 675).
Und Radio Free Europe gibt es immer noch.

Springen wir in die Gegenwart und auf einen anderen Kontinent, nach Afrika. Ich durfte vor zwei Jahren die Radiokünstlerin Claudia Wegener und ihr beeindruckendes Projekt radio continental drift kennenlernen, das sie vor 15 Jahren gegründet hat. Mit einer Art Kofferradiostudio, einem „Broadcasting House in der Tasche einer Zuhörerin“ reist sie seither durch den Kontinent und ermächtigt insbesondere Frauen dazu, ihre Geschichten zu erzählen und das Handwerk des Radiomachens zu erlernen. Zum Beispiel im Sambesi-Tal, in der Grenzregion zwischen Simbabwe und Sambia. Das dort aufgebaute Community Radio, Zongw FM, dient dem durch den Fluß getrennten Volk der Tonga als Kommunikationsmittel: „This is a radio-bridge across the Zambezi and across the world...“ 
Hinzu kommt im digitalen Zeitalter die Möglichkeit der Online Präsentation, die die Stimmen der Frauen weit über Landes- und Stammesgrenzen hörbar macht. Claudia Wegener versteht sich und ihre Arbeit als switchboard, als Transistorraum, der lokale Projekte, Künstler*innen und Zuhörer*innen miteinander verbindet. Die Radiosendungen und Feldaufnahmen sind unter Creative-Commons-Lizenz im Internet Archiv und auf ihrem Blog zu finden. 

Ich bin ja grundsätzlich davon überzeugt, dass Radio immer noch die Welt bewegen oder irritieren kann. Der schönste Beweis waren für mich die Radio Revolten, die im Oktober 2016 in Halle stattfanden und die übrigens auch ein Archiv angelegt haben. Für einen Monat trafen sich Radiokünstler*innen aus aller Welt und machten Tag und Nacht Radio (außerdem noch Ausstellungen, Performances und am Ende auch ein Buch). Was soll ich sagen: es war ohrenöffnend großartig!

Initiiert hat die Radio Revolten die Hallenser Community Radiostation Radio Corax, die seit 20 Jahren auf UKW sendet und damit zu den langlebigsten Freien Radiostationen in der Bundesrepublik gehört. Corax ist Mitglied im Bundesverband Freier Radios und legt wie viele Freie Radios seine Sendungen im Audioportal Freier Radios zur Nachnutzung ab. Im ZZF-Umfeld ist immer wochentags von 7 bis 10 Uhr das Morgenmagazin von Radio Corax auf UKW Berlin 88,4 und in Potsdam auf 90,7 zu empfangen. Meine Lieblingssendung SUBjektiv ist im Internet Livestream immer montags von 21 bis 22 Uhr zu hören. Dort legt der Corax-Geschäftsführer Mark Westhusen gemeinsam mit Michael Nicolai seit 20 Jahren Pünk auf, wie die Herren ihre Lieblingsmusik zu nennen pflegen. Ein Sendearchiv gibt es natürlich auch.

Zum Schluss noch der Hinweis auf eine Radiosendung, die auch als Zeitreise funktionieren kann, nur dass sie oft in viel weiter entfernte Zeitzonen entführt, was nicht nur am Alter des Moderators liegt. Und wie Orson Welles ist auch mein Lieblingsradiomoderator für etwas anderes berühmt als für seine tollen Radioshows. Denn sein Geld verdient Bob Dylan eher mit selbstgeschriebenen Liedern. Von 2006 bis 2009 hat er aber – neben seiner Never Ending Tournee durch die Welt – wöchentlich einstündige thematische Radioshows produziert, die aufs schönste eine Archäologie US-amerikanischen Liedguts darstellen. Was mir besonders gefällt? Ganz ehrlich? Seine Stimme! Ich finde, Bob Dylan hat mit seinem nuschelnden, zurückgenommenen, dunklen Timbre eine ideale Radiostimme. Wenn er mit dieser Funde aus seinem Plattenschrank präsentiert, legt er gleichzeitig seine eigenen Quellen offen. Und das tut er sehr sympathisch als Fan und mit großem Respekt, aber auch mit Ironie in der Auswahl für die Playlists zu so schönen Themen wie Wetter, Nichts, Schuhe oder Autos. Die insgesamt 100 Radioshows der „Theme Time Radio Hour“ sind in einem sehr charmanten Retrostil inszeniert, inklusive gefaketer Anrufer und Einspieler von Freund*innen wie Cat Power und Elvis Costello. Und sie sind alle im Internet Archiv nachhörbar.

Viel Spass beim akustischen Stöbern und stay tuned im Home Office!
Mit herzlichen Grüßen aus eben diesem
Helen Thein

(17.04.2020)