01/2015: Belletristik

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Wir hoffen, Sie haben die Stürme in den ersten Tagen des Jahres unbeschadet überstanden. Da das Wetter kaum etwas anderes erlaubt als die gemütliche Lektüre in beheizten Räumen, geben wir Ihnen im Folgenden dafür zehn Lektüretipps. Heute unter dem Motto „Belletristik für Zeithistoriker“ oder „Zeitgeschichte im Roman“:

Lutz Seiler: Kruso (ZZF 26246) 
Dieser 2014 erschienene und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman erzählt von Edgar Bender, der aus seinem Leben fliehend Abwäscher auf Hiddensee wird, jener legendenumwogten Insel, die, wie es heißt, schon außerhalb der Zeit und „jenseits der Nachrichten“ liegt. Dort lernt er Alexander Krusowitsch Kruso kennen. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter und die Gesetze ihrer Nächte, in denen Ed seine sexuelle Initiation erlebt. Geheimer Motor dieser Gemeinschaft ist Krusos Utopie, die verspricht, jeden Schiffbrüchigen des Landes (und des Lebens) in drei Nächten zu den „Wurzeln der Freiheit“ zu führen. Doch der Herbst 89 erschüttert die Insel. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod und ein Versprechen.

Anne Hahn: Gegenüber von China (ZZF 26073) 
Als im Herbst 1989 die Berliner Mauer fällt, bedeutet dies für Nina Befreiung: nicht nur aus den einengenden Strukturen der DDR, sondern vor allem aus dem Stasi-Knast, in dem sie nach einer missglückten Flucht einsitzt. Eine Flucht, die sie über Aserbaidschan und den Iran in die Türkei und von dort nach West-Berlin führen sollte. Sowjetische Grenzsoldaten beenden Ninas Pläne und überführen sie zurück in die DDR und die Realität ostdeutscher Justiz. Dieser autobiografische (Debüt-)Roman über Punk in der DDR, Flucht und Stasi-Haft wurde 2014 in dem kleinen feinen Mainzer Ventil Verlag neu aufgelegt.

David Eggers: The Circle (ZZF 25977) 
Huxleys Schöne neue Welt reloaded: Die 24-jährige Mae Holland hat einen Job in der hippsten Firma der Welt ergattert, beim »Circle«, einem Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien, der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz – so ein Ziel der »drei Weisen«, die den Konzern leiten – wird es keinen Schmutz mehr geben im Internet und auch keine Kriminalität. Mae wird zur Vorzeigemitarbeiterin und treibt den Wahn, alles müsse transparent sein, auf die Spitze. Doch eine Begegnung mit einem mysteriösen Kollegen ändert alles … Eggers hat einen hellsichtigen Roman über gegenwärtigen Vernetzungswahn geschrieben, der schnell zu einem Kultbuch avancierte, mehrere Auflagen erlebte und breit rezensiert wurde.

Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen (ZZF 25718) 
Im Sommer 1964 reist der damals zwölfjährige Erzähler mit seinem Vater nach West-Berlin. Wenige Jahre nach dem Mauerbau und ein Jahr nach Kennedys Berlin-Besuch führt der Berlin-Aufenthalt Vater und Sohn die Gegenwart des Kalten Kriegs vor Augen und wird gleichzeitig zu einer Zeitreise in die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. 1939 waren die Eltern frisch verheiratet aus einem kleinen Westerwald-Ort in die damalige Reichshauptstadt gezogen; der Vater wurde bei der Deutschen Reichsbahn tätig und sie verloren bei Luftangriffen ihr erstes Kind. Tag für Tag erkunden Vater und Sohn die Spuren dieser Zeit, besuchen die frühere Familienwohnung, treffen Bekannte und lesen die Haushaltsbücher, die die Mutter in den Kriegsjahren geführt hat. Über seine Eindrücke schreibt der Zwölfjährige ein Reisetagebuch, in dem er auf dramatische Weise vom Nachempfinden der Vergangenheit am eigenen jungen Körper erzählt. Ein Roman zur Ausstellung „Biotop Berlin“!

Marc Schweska: Zur letzten Instanz (ZZF 25354) 
Eine Lektüreempfehlung besonders für die Abt. II: Denn dieser Debütroman von 2011 gibt einen Einblick in die bisher unbekannte Szene der Elektriker, Bastler, Tüftler in der DDR. Der Autor verbindet die fiktiven Aufzeichnungen des jungen Elektrikers Lem, Berichte der Staatssicherheit und essayistische Passagen zu einem vielschichtigen, bunten, abwechslungsreichen Zeitbild, das quasi nebenbei eine Menge über die Jugend, den Alltag und die Subkultur der DDR erzählt. Die „Süddeutsche“ hob in ihrer Rezension besonders die Referenzen auf die DDR-Wissenschaftsgeschichte der 50er und 60er Jahre hervor, vor allem auf die Ost-Kybernetiker dieser Zeit.

Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski (ZZF 22277) 
Zweimal wurde Jan Karski ins Warschauer Ghetto eingeschleust, denn er sollte als Kurier des polnischen Widerstands der Welt von dem Mord an den Juden berichten. Mit diesem Auftrag reiste er nach England und Amerika, traf sogar Präsident Roosevelt. Die polnische Exilregierung forderte die Alliierten auf zu handeln. Doch warum haben sie es nicht getan? Diese Frage quälte Jan Karski sein Leben lang, und die Antworten, die er fand, ließen ihn nach dem Krieg in Schweigen versinken. Yannick Haenel gibt Karski eine fiktive, berührende Stimme. In seinem ungewöhnlich konstruierten und in Frankreich heftig umstrittenen Roman mischt der Autor Erinnerung, Geschichte und Fiktion.

Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (ZZF 22132) 
In Los Angeles, der Stadt der Engel, verbringt die Erzählerin Anfang der Neunziger einige Monate auf Einladung des Getty Center. Ihr Forschungsobjekt sind die Briefe einer gewissen L. aus dem Nachlaß einer verstorbenen Freundin, deren Schicksal sie nachspürt – eine Frau, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte. Sie beobachtet die amerikanische Lebensweise, taucht ein in die deutschsprachige Emigrantenkolonie und wird immer wieder auf die Lage im wiedervereinigten Deutschland angesprochen: Werde der „Virus der Menschenverachtung“ in den neuen, ungewissen deutschen Zuständen wiederbelebt? In der täglichen Lektüre, in Gesprächen, in Träumen stellt sich die Erzählerin einem Ereignis aus ihrer Vergangenheit und ringt um die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerung. Der letzte große Roman der grande dame der DDR-Literatur.

Peter O.Chotjewitz: Mein Freund Klaus (ZZF 22111) 
»Peter O. Chotjewitz’ große Roman-Biographie „Mein Freund Klaus“ kämpft an altbekannten Fronten, pflegt verhärtete Freund-Feind-Schemata und ist dennoch, das ist das überraschende Resultat dieses Buches, jener wertvolle Beitrag zu der ermüdend festgefahrenen RAF-Diskussion geworden, der nicht unbedingt zu erwarten gewesen war: es ist ein beklemmendes Dokument des idealistischen, sicherlich sehr ideologischen, aber aufopferungsvollen Kampfes Klaus Croissants’ gegen die rechtsstaatlich bedenkliche Behandlung der zeitgenössischen Radikalopposition durch die bundesdeutsche Justiz«, so Kevin Vennemann, für WDR 3 über den letzten Roman des 2010 verstorbenen Autors.

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land (ZZF 20129) 
Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Anne und Richard Hoffmann stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man sich vor den Zumutungen des Systems in die Dresdner Nostalgie flüchten? Oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Er hat Zugang zum Bezirk »Ostrom«, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird. In epischer Sprache beschreibt Tellkamp den Untergang eines Gesellschaftssystems. Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben.

Karl Mickel: Lachmunds Freunde (ZZF 18504) 
In seinem einzigen Roman erzählt Karl Mickel die Geschichte dreier Freunde – Abenteurer, Boxer, Radrennfahrer, Studenten, Herumtreiber in Kneipen und Frauenhelden. Handlungsort ist ein poetisches Königreich Sachsen, das mit den 40 Jahren DDR so gar nichts und auf vertrackte Weise doch alles zu tun hat. Realistisches, Phantastisches, Surreales, Todtrauriges und Urkomisches gehen Hand in Hand. Lange vor dem von der Zensur immer wieder verzögerten Erscheinen des ersten Teils war „Lachmunds Freunde“ ein Mythos. Als der Roman endlich herauskam, 1989, waren die Menschen in der DDR jedoch weniger mit dem Lesen beschäftigt. Das Echo blieb begrenzt, und der Autor setzte sich an die Fortsetzung der Geschichten seiner drei Helden im Lichte neuer historischer Entwicklungen. „Lachmunds Freunde 2“ blieb Mickels wichtigstes literarisches Projekt bis zu seinem Tod im Jahr 2000.

All diese Bücher und noch viel mehr finden Sie selbstverständlich bei uns, in der Bibliothek des ZZF! Es grüßt herzlich, das Bibliotheksteam. P.S.: In unregelmäßigen Abständen werden wir Sie von nun an auf diesem Wege immer wieder einmal auf Schätze in unserem Bestand hinweisen.