Nachlese zum zweiten Potsdamer Festival des historischen Films "moving history", 25.–29.09.2019

11.10.2019

„Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit“
von Anna Kokenge (Humboldt-Universität zu Berlin)

Regina Schillings Fernsehdokumentation „Kulenkampff Schuhe“ ist der beste Film zu einem historischen Thema, der im vergangenen Jahr in Deutschland zu sehen war. Das zumindest befand die Jury des Moving History Festivals, die den essayistischen Dokumentarfilm mit der Clio, dem Preis für den jahresbesten Film mit einem historischen Sujet, auszeichnete. Verliehen wurde die Trophäe am 29. September im Rahmen des feierlichen Festivalabschlusses durch den Schriftsteller Uwe Timm im Babelsberger Thalia Kino. Schillings Film, der in Titel und Struktur wohl nicht zufällig seinem Vorgänger „Titos Brille“ gleicht, jedoch im Gegensatz zu letzterem vollständig aus Archiv-Material montiert wurde, thematisiert den Umgang mit bzw. die Verdrängung der NS-Vergangenheit in den Wirtschaftswunderjahren der westdeutschen Nachkriegszeit. Anhand der Biografie ihres Vaters, eines Drogisten, zeigt Schilling auf, welch beruhigende Wirkung die Samstagabendshows von Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Alexander und Hans Rosenthal auf ihre kriegsgeschädigten Zuschauer*innen ausübten. Die Produkte in der Drogerie des Vaters, „Doppelherz“ und „Frauengold,“ hätten Gesundheit und eine ebensolche Zuverlässigkeit versprochen wie die Shows im Fernsehen, „Einer wird gewinnen“ und „Dalli Dalli“, die durch ihre leichte Unterhaltung „die reinste Medizin“ für den Vater gewesen seien. Immer wieder nimmt Schilling in ihrem Film zugleich die brüchigen Biografien der Showmoderatoren in den Blick, die derselben Generation wie ihr Vater angehörten. Sie zeigt auf, wie deren persönliche Schicksale und Kriegserlebnisse unterschwellig in die Shows einflossen. Kulenkampff war an der Front, Rosenthal untergetaucht in Berlin. Als letzterer am 9. November 1978 keine Show machen, sondern an die Pogromnacht erinnern will, pocht das ZDF auf Pflichterfüllung.

Das Moving History Festival, das sich dem historischen Film widmet, Filme zeigt, die zwar nicht immer Geschichte schreiben, aber immer Geschichte beschreiben, ist hierzulande das erste seiner Art. 2017 ­­­­­gegründet nach französischem Vorbild, widmete es seine Retrospektive in diesem Jahr erneut einem explizit deutschen Thema. Während die erste Ausgabe des Festivals vor zwei Jahren die RAF und den deutschen Herbst von 1977 mitsamt der ihm vorausgegangenen „Bleierne[n] Zeit“ (Margarethe von Trotta, 1981) in den Blick nahm, stand das Filmprogramm in diesem Jahr ganz im Zeichen der Wende, des Umbruchherbstes von 1989 und der ihm vorausgegangenen „Veriegelte[n] Zeit“ (Sibylle Schönemann, 1991). In Anlehnung an Andreas Dresens gleichnamige Romanadaption zeigte die Retrospektive unter dem Titel „Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit“ anlässlich des 30-jährigen Mauerfalljubiläums eine Auswahl von Spiel- und Dokumentarfilmen, die in der Wendezeit entstanden und/oder inhaltlich auf diese Bezug nahmen. Über 200 Filme hatten die Kurator*innen eigenen Angaben zufolge gesichtet, das Spektrum der schlussendlich ausgewählten 30 Produktionen reichte von kleinen dokumentarischen Arbeiten wie „Im schönsten Wiesengrunde“ (Peter Badel/Dieter Chill, 1991) bis hin zu großen Trash-Filmen wie dem „Deutsche[n] Kettensägenmassaker“ (Christoph Schlingensief, 1990). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermochte es die Filmreihe, ein Kaleidoskop jener Träume und Albträume, Hoffnungen und Enttäuschungen, Risiken und Nebenwirkungen zu entwerfen, die sich an den Mauerfall anschlossen.

Als Erklärungsangebote für gesellschaftliche Entwicklungen und erinnerungskulturelle Zeugnisse gleichermaßen waren Konzeption und Rezeption der Filme Gegenstand auf gleich mehreren öffentlichen Panels sowie innerhalb der an das Festival angegliederten Moving History Akademie. Nicht alle Diskussionen richten sich zudem an film- und geschichtswissenschaftliche Fachbesucher*innen. Sich als Publikumsfestival verstehend, luden die Veranstalter*innen zu fast jedem Filmscreening beteiligte Filmschaffende ein, die das Gespräch mit der interessierten Zuschauer*innenschaft suchten, Anekdoten von den Dreharbeiten berichteten oder darzulegen versuchten, was genau sie eigentlich zu der Realisierung ihrer jeweiligen Filme veranlasst hatte. Ehrengast Marcel Ophüls, dessen Dokumentarfilm „Novembertage“ das Festival eröffnet hatte, zeigte sich dabei v. a. getrieben von der Neugier, wollte er doch all jene Menschen wiederfinden, die er in Videos aus der Nacht des Mauerfalls gesehen und auf deren Suche er sich einige Monate später begeben hatte.

Neugier und der Wunsch, die DDR und die Nachwende-Gesellschaft so zu erzählen, wie sie sie erlebt hatte, waren auch die Motivationen, die die Drehbuchautorin Laila Stieler für ihre filmischen Auseinandersetzungen mit dem Osten des Landes benannte. Die von Filmkritiker Knut Elstermann moderierte Masterclass, in der die Autorin Laila Stieler Einblicke in ihre Arbeit gewährte und insbesondere über die Entstehung der von ihr gemeinsam mit dem Regisseur Andreas Dresen realisierten Nachwende-Filme sprach, stellte ein absolutes Highlight des Filmfestivals dar. Die Drehbuchautorin stellte sich bestens gelaunt sämtlichen Publikumsfragen, ob sie sich nun um dramaturgische Details zu ihren Filmen „Stilles Land“ oder „Gundermann“ drehten oder darum, wie es eigentlich ist, wenn man den deutschen Filmpreis gewinnt. Von ihrer Masterclass bleibt, was das Festival in seiner Gesamtheit auszeichnete: das Bild eines vielfarbigen Ostens und der gespannte Blick in die Zukunft.

 

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Nachlese zum zweiten Potsdamer Festival des historischen Films "moving history", 25.–29.09.2019

11.10.2019

„Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit“
von Anna Kokenge (Humboldt-Universität zu Berlin)

Regina Schillings Fernsehdokumentation „Kulenkampff Schuhe“ ist der beste Film zu einem historischen Thema, der im vergangenen Jahr in Deutschland zu sehen war. Das zumindest befand die Jury des Moving History Festivals, die den essayistischen Dokumentarfilm mit der Clio, dem Preis für den jahresbesten Film mit einem historischen Sujet, auszeichnete. Verliehen wurde die Trophäe am 29. September im Rahmen des feierlichen Festivalabschlusses durch den Schriftsteller Uwe Timm im Babelsberger Thalia Kino. Schillings Film, der in Titel und Struktur wohl nicht zufällig seinem Vorgänger „Titos Brille“ gleicht, jedoch im Gegensatz zu letzterem vollständig aus Archiv-Material montiert wurde, thematisiert den Umgang mit bzw. die Verdrängung der NS-Vergangenheit in den Wirtschaftswunderjahren der westdeutschen Nachkriegszeit. Anhand der Biografie ihres Vaters, eines Drogisten, zeigt Schilling auf, welch beruhigende Wirkung die Samstagabendshows von Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Alexander und Hans Rosenthal auf ihre kriegsgeschädigten Zuschauer*innen ausübten. Die Produkte in der Drogerie des Vaters, „Doppelherz“ und „Frauengold,“ hätten Gesundheit und eine ebensolche Zuverlässigkeit versprochen wie die Shows im Fernsehen, „Einer wird gewinnen“ und „Dalli Dalli“, die durch ihre leichte Unterhaltung „die reinste Medizin“ für den Vater gewesen seien. Immer wieder nimmt Schilling in ihrem Film zugleich die brüchigen Biografien der Showmoderatoren in den Blick, die derselben Generation wie ihr Vater angehörten. Sie zeigt auf, wie deren persönliche Schicksale und Kriegserlebnisse unterschwellig in die Shows einflossen. Kulenkampff war an der Front, Rosenthal untergetaucht in Berlin. Als letzterer am 9. November 1978 keine Show machen, sondern an die Pogromnacht erinnern will, pocht das ZDF auf Pflichterfüllung.

Das Moving History Festival, das sich dem historischen Film widmet, Filme zeigt, die zwar nicht immer Geschichte schreiben, aber immer Geschichte beschreiben, ist hierzulande das erste seiner Art. 2017 ­­­­­gegründet nach französischem Vorbild, widmete es seine Retrospektive in diesem Jahr erneut einem explizit deutschen Thema. Während die erste Ausgabe des Festivals vor zwei Jahren die RAF und den deutschen Herbst von 1977 mitsamt der ihm vorausgegangenen „Bleierne[n] Zeit“ (Margarethe von Trotta, 1981) in den Blick nahm, stand das Filmprogramm in diesem Jahr ganz im Zeichen der Wende, des Umbruchherbstes von 1989 und der ihm vorausgegangenen „Veriegelte[n] Zeit“ (Sibylle Schönemann, 1991). In Anlehnung an Andreas Dresens gleichnamige Romanadaption zeigte die Retrospektive unter dem Titel „Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit“ anlässlich des 30-jährigen Mauerfalljubiläums eine Auswahl von Spiel- und Dokumentarfilmen, die in der Wendezeit entstanden und/oder inhaltlich auf diese Bezug nahmen. Über 200 Filme hatten die Kurator*innen eigenen Angaben zufolge gesichtet, das Spektrum der schlussendlich ausgewählten 30 Produktionen reichte von kleinen dokumentarischen Arbeiten wie „Im schönsten Wiesengrunde“ (Peter Badel/Dieter Chill, 1991) bis hin zu großen Trash-Filmen wie dem „Deutsche[n] Kettensägenmassaker“ (Christoph Schlingensief, 1990). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermochte es die Filmreihe, ein Kaleidoskop jener Träume und Albträume, Hoffnungen und Enttäuschungen, Risiken und Nebenwirkungen zu entwerfen, die sich an den Mauerfall anschlossen.

Als Erklärungsangebote für gesellschaftliche Entwicklungen und erinnerungskulturelle Zeugnisse gleichermaßen waren Konzeption und Rezeption der Filme Gegenstand auf gleich mehreren öffentlichen Panels sowie innerhalb der an das Festival angegliederten Moving History Akademie. Nicht alle Diskussionen richten sich zudem an film- und geschichtswissenschaftliche Fachbesucher*innen. Sich als Publikumsfestival verstehend, luden die Veranstalter*innen zu fast jedem Filmscreening beteiligte Filmschaffende ein, die das Gespräch mit der interessierten Zuschauer*innenschaft suchten, Anekdoten von den Dreharbeiten berichteten oder darzulegen versuchten, was genau sie eigentlich zu der Realisierung ihrer jeweiligen Filme veranlasst hatte. Ehrengast Marcel Ophüls, dessen Dokumentarfilm „Novembertage“ das Festival eröffnet hatte, zeigte sich dabei v. a. getrieben von der Neugier, wollte er doch all jene Menschen wiederfinden, die er in Videos aus der Nacht des Mauerfalls gesehen und auf deren Suche er sich einige Monate später begeben hatte.

Neugier und der Wunsch, die DDR und die Nachwende-Gesellschaft so zu erzählen, wie sie sie erlebt hatte, waren auch die Motivationen, die die Drehbuchautorin Laila Stieler für ihre filmischen Auseinandersetzungen mit dem Osten des Landes benannte. Die von Filmkritiker Knut Elstermann moderierte Masterclass, in der die Autorin Laila Stieler Einblicke in ihre Arbeit gewährte und insbesondere über die Entstehung der von ihr gemeinsam mit dem Regisseur Andreas Dresen realisierten Nachwende-Filme sprach, stellte ein absolutes Highlight des Filmfestivals dar. Die Drehbuchautorin stellte sich bestens gelaunt sämtlichen Publikumsfragen, ob sie sich nun um dramaturgische Details zu ihren Filmen „Stilles Land“ oder „Gundermann“ drehten oder darum, wie es eigentlich ist, wenn man den deutschen Filmpreis gewinnt. Von ihrer Masterclass bleibt, was das Festival in seiner Gesamtheit auszeichnete: das Bild eines vielfarbigen Ostens und der gespannte Blick in die Zukunft.

 

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