Interview: Energie- und Umweltpolitik mit Laura Kaiser, Thomas Lettang, Jan-Henrik Meyer und Henning Türk

23.08.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über das Themenfeld der Energie- und Umweltpolitik, die Anti-Atomkraft- und die Klimabewegung sprechen in diesem Interview Laura Kaiser, Thomas Lettang, Jan-Henrik Meyer und Henning Türk. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth.
 

Windräder
Bild von Matthias Böckel auf Pixabay 

In den 1970er-Jahren waren der Umweltschutz und die Gefahren der Atomenergie zentrale Anliegen zivilgesellschaftlicher Bewegungen. Zigtausende demonstrierten damals gegen den Bau neuer Kernkraftwerke. Auch viele Publikationen warnten ihre Leser*innen. Welche Ereignisse sind für die Entstehung der Umweltbewegung von Bedeutung? Wer engagierte sich damals aus welchen Gründen?

Meyer: Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre entstand »Umwelt« als neuer Begriff, als neues Problem- und Politikfeld, das Naturschutz und die neueren Verschmutzungsprobleme unter ökologischem Vorzeichen zusammendachte. Das spielte sich wissenschaftlich und politisch sehr stark international ab – unter führender Rolle der USA und Schwedens. Dabei spielten Umweltskandale wie das Torrey Canyon Tankerunglück von 1967, die Debatte über DDT, und die grenzüberschreitende Luftverschmutzung eine große Rolle darin, das politisch auf die Tagesordnung zu setzen. Es sind am Anfang eher diese öffentlichen Debatten als zivilgesellschaftlicher Protest.

Türk: Wenn man sich speziell die AntiAtomkraft-Bewegung als Teil der Umweltbewegung anschaut, lag der Beginn in sogenannten »Not in my backyard«-Bewegungen (NIMBY). Sie engagierten sich aus der Sorge, dass die Kernkraftwerke ihre lokale wirtschaftliche Existenzgrundlage oder ihre ländliche Heimat zerstören würden. Hinzu kamen einzelne kritische Wissenschaftler*innen, die auf Gefahren der Atomkraft für die Gesundheit aufmerksam machten. Die ersten Proteste spielten sich dementsprechend auch eher auf der juristischen Ebene ab. Das änderte sich dann erst, als Anfang/Mitte der 1970er-Jahre junge Leute aus linken studentischen Kreisen den Anti-Atom-Protest für sich entdeckten und neue Protestformen einbrachten. Eine wichtige Rolle spielten auch Ohnmachtserfahrungen gegenüber dem Staat und den Energieversorgungsunternehmen, die technische Großprojekte über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg durchzusetzen versuchten.

Du hast gerade schon angedeutet, dass Anti-Atomkraft- und Umwelt-Bewegung eng miteinander verbunden waren. Könntet ihr kurz erläutern, in welchem Zusammenhang damals Energie- und Umweltfragen gedacht wurden?

Lettang: Bereits in den 1950er-Jahren wurden die lokalen Umweltbelastungen auch als Folge der Energieerzeugung durch Kraftwerke problematisiert. Die Luftverschmutzung durch Staub-, Schwefel- und Stickstoffimmissionen, die Abwärmebelastung der Gewässer oder die Strahlenbelastung durch Kernenergie wurden aus landschafts- und naturschützerischen Traditionen und aus gesundheitspolitischen Erwägungen heraus zunehmend kritisiert. Die Kritik an negativen Umweltfolgen formulierten zumeist lokale Initiativen von unten. Dazu mischte sich eine stark modernitäts- und technikkritische Haltung im öffentlichen Diskurs, vor allem seitens konservativer Intellektueller.

Diese Debatten wurden sicherlich nicht nur in der Bundesrepublik ausgetragen?

Lettang: Richtig. Der Umweltschutzdiskurs wurde schon in den 1960er-Jahren internationaler. Schadstoffbelastungen der Luft machten eben nicht an Grenzen halt und wurden auch verstärkt als gemeinsame Probleme westlicher Industriegesellschaften wahrgenommen.

Inwiefern markierten die 1970er-Jahren dann eine Zäsur für das politische Denken und Handeln?

Lettang: Die Umwelt wurde zu einem zentralen Ort gesellschaftspolitischer Aushandlung. Patrick Kupper hat herfür den Begriff der »1970er-Diagnose« geprägt: Systemtheorie, Ökologie und Kybernetik verorteten den Menschen völlig neu im Verhältnis zur Natur und betonten die komplexen, interdependenten Zusammenhänge. Die öko-apokalyptischen Mahnungen – etwa der »Grenzen des Wachstums« – verwiesen auf die Endlichkeit der Ressourcen und die Ausbeutung der Natur. Natur konnte in diesem Sinne nicht mehr nur bewahrt werden; das Mensch-Natur-Verhältnis musste gestaltet werden. Umweltschutzinitiativen, die neben dem klassischen Naturschutz entstanden, und das staatliche Umweltprogramm waren ein Ausdruck dieser neuen Perspektive. Lösungsansätze gab es enorm viele: In Regierungsdebatten der 1970er- und 1980er-Jahre wurden generell sehr starke Hoffnungen in gesetzliche Verbote, Grenzwerte und technische Lösungen für Immissionen gesetzt. Ein Beispiel ist hier die Debatte um das Waldsterben. Parallel lässt sich auch ein verstärkter Einfluss von ökonomischem Denken auf Regulierungsprozesse nachzeichnen.

Mit diesem Wandel einher ging offenbar auch eine »Gründungswelle«. 1971 wurde beim Innenministerium der Sachverständigenrat für Umweltfragen, kurz Umweltrat oder SRU, eingerichtet. Laura, wie kam es dazu?

Kaiser: Der Umweltrat wurde unter der maßgeblichen Leitung des Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher im Kontext des ersten Umweltprogramms der Bundesregierung gegründet. In der Vorbereitung dieses Programms erhielt eine Projektgruppe den Auftrag, ein Konzept zu erarbeiten, wie sich die wissenschaftliche Beratung für die Umweltpolitik künftig organisieren ließe. Man entschied sich dann jedoch nicht für die eigentlich im Konzept vorgeschlagene Umweltkommission, der eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftler*innen zuarbeiten und die eine doppelte Funktion der ad hoc und langfristigen Beratung erhalten sollte. Stattdessen entschied man sich mit dem Sachverständigenrat für ein eher »klassisches« Gremium, das sich an der Form des Wirtschaftsrates orientierte.

Und womit genau beschäftigte sich dieses Gremium?

Kaiser: Offizielle Aufgabe des Umweltrates war es, regelmäßig Gesamtgutachten über den Zustand der Umwelt in der Bundesrepublik zu erstellen und umweltpolitische Empfehlungen auszusprechen. Da die ersten Gesamtgutachten aber nicht die erwünschte öffentliche Aufmerksamkeit erzielten, konzentrierte sich der Rat nach 1978 stärker auf Sondergutachten zu öffentlichkeitswirksameren Sachbereichen, für die auch spezifische Lösungsansätze entwickelt werden konnten. So entstanden z.B. Gutachten zur Verschmutzung des Rheins, zu den Waldschäden, der Nordsee und dem Themenbereich Energie und Umwelt.

In der DDR wurde 1972 das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR (MUW) gebildet. Warum dauerte es eigentlich so viele Jahre, bis dann 1986 das Bundesumweltministerium gegründet wurde?

Kaiser: In der Bundesrepublik war die Umweltpolitik in ministerielle Zuständigkeiten zersplittert. Es gab eine Konkurrenz zwischen den Ressorts auf Bundesebene einerseits und zwischen Bund und Ländern andererseits. Die Luftreinhaltung, der Gewässerschutz und die Lärmbekämpfung waren dem Ministerium des Innern unterstellt. Die Landschaftspflege und der Naturschutz fielen in die Zuständigkeit des Bonn, 1979: Der Bundesverband der Bürgerinitiativen für den Umweltschutz demonstriert im Hofgarten gegen die Nutzung von Atomkraft. Landwirtschaftsministeriums. Die gesundheitlichen Belange des Umweltschutzes – also etwa die Strahlenhygiene und Rückstände von Schadstoffen in Lebensmitteln und Chemikalien – waren dem Gesundheitsministerium zugeordnet. Erst nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl wurden diese Bereiche im Umweltministerium vereint. Das lange Festhalten an diesen Zuständigkeiten kann durchaus als Konfliktvermeidungsstrategie gewertet werden. Ein vergleichbares Konfliktpotential hat es in der DDR aufgrund ihrer zentralistischen Struktur nicht gegeben.

Jan-Henrik, Anfang der 1970er-Jahre begann auch die Europäische Gemeinschaft (EG), eine gemeinsame Umweltpolitik zu entwickeln. Wie kam es dazu?

Meyer: Am Anfang der europäischen Umweltpolitik steht eine Initiative des damals völlig machtlosen, nicht einmal direkt gewählten Europäischen Parlaments, das auf ein Fischsterben im Rhein im Sommer 1969 reagiert. Niederländische Abgeordnete forderten die EG zum Handeln auf, weil die Wasservergiftung grenzüberschreitend in den Niederlanden die Wasserversorgung gefährdet. Die Parlamentarier schoben dann gleich einen Bericht über Luftverschmutzung hinterher, um Umwelt als Ganzes auf die Tagesordnung der EG zu setzen.

Die Gewässer- und die Luftverschmutzung stand also anfangs im Mittelpunkt des politischen Interesses auf europäischer Ebene?

Meyer: Genau, die neue Umweltpolitik umfasste die Umweltmedien Wasser und Luft und deren Verschmutzung. Da es keine Vertragsgrundlage für das Umweltthema gab, war für die Zuständigkeit der EG relevant, dass es sich um grenzüberschreitende oder für den Handel im Binnenmarkt relevante Themen handelte.

Gab es vor diesem Engagement der EG bereits grenzübergreifende Initiativen oder beginnt die transnationale Zusammenarbeit tatsächlich erst zu diesem Zeitpunkt?

Meyer: Es gab bereits seit 1950 die International Commission for the Protection of the Rhine against Pollution (ICPRP), in der sich die Rheinanlieger dem Schutz des Rheinwassers verschrieben. Allerdings war diese Kommission ein zahnloser Tiger. In Westeuropa war der 1949 gegründete Europarat für die Fragen von Naturschutz zuständig, erließ 1967/1968 auch Charten gegen Luft- und Wasserverschmutzung, und erklärte 1970 zum Europäischen Umweltjahr. Dieses fiel genau in die Zeit wachsenden Umweltinteresses, und so konkurrierten Anfang der 1970er-Jahre verschiedene internationale und regionale Organisationen um die Behandlung und Regulierung der neuen Umweltfragen: neben dem Europarat auch die NATO und die OECD, und mit der Stockholmer Konferenz von 1972 die UN. Erst nach der UN-Konferenz konnten sich die EG-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Umweltpolitik einigen. Die EG war in dieser Hinsicht also eher spät dran. Angler am Rhein-Herne-Kanal 

Auch das Thema Energiepolitik wurde ab den 1970er-Jahren verstärkt international verhandelt. Henning, Du nimmst die 1974 von 16 Staaten gegründete Internationale Energieagentur (IEA) in den Blick. Sie ist Teil der OECD. Was versprach man sich damals von der Gründung?

Türk: Die Gründung der IEA erfolgte ja im Kontext der ersten Ölkrise. Insofern versprachen sich die westlichen Ölverbraucherländer, durch ihre Zusammenarbeit zukünftige Ölkrisen zu verhindern oder zumindest besser mit ihnen umgehen zu können. Dafür verpflichteten sie sich zum Beispiel, umfangreiche Ölreserven anzulegen. Darüber hinaus hatten die einzelnen Länder unterschiedliche Erwartungen. Die europäischen Mitgliedsländer setzten etwa auf einen Technologietransfer im Energiebereich von den USA nach Europa. Im Gegenzug erwarteten die USA eine engere außenpolitische Abstimmung unter den Mitgliedsländern der IEA. Sie hatten aus der ersten Ölkrise den Schluss gezogen, dass die europäischen Länder durch ihre große Abhängigkeit vom Öl politisch erpressbar seien. Die USA wollten daher einer möglichen Spaltung des »Westens« bei weiteren Ölkrisen durch die Zusammenarbeit in der IEA einen Riegel vorschieben.

Kannst du ein wenig berichten, was die Agentur genau macht und wie sie arbeitet?

Türk: Vielen ist die IEA gar nicht bekannt, weil sie vor allem im Hintergrund arbeitet. In der Öffentlichkeit taucht sie meistens in zwei Zusammenhängen auf. Zum einen greift sie in den Markt ein, wenn das Ölangebot durch externe Schocks einbricht. Zum anderen veröffentlicht die IEA jährlich den World Energy Outlook, mit dem sie die zukünftige Förderung und den Verbrauch von Energieressourcen prognostiziert. Daran entzündete sich seit den 1990er-Jahren scharfe Kritik. So warfen die Befürworter*innen der erneuerbaren Energien der IEA vor, das Potenzial von Windkraft oder Solarenergie systematisch herunterzurechnen. Deswegen gibt es mittlerweile auch eine Art Gegenorganisation: die International Renewable Energy Agency (IRENA), die die Verbreitung der erneuerbaren Energien fördert.

Und in welchem Verhältnis steht die IEA zur OPEC?

Türk: Das ist eine spannende Frage, denn das Verhältnis wandelte sich im Laufe der Zeit sehr stark. So wurde die IEA bei ihrer Gründung 1974 von der OPEC als Gegenorganisation wahrgenommen. Alle Versuche, einen offiziellen Dialog zwischen den beiden Organisationen in dieser Phase zustande zu bringen, blockte die OPEC ab. So kam es nur zu informellen Begegnungen, etwa am Rande von wissenschaftlichen Konferenzen. In den 1980er-Jahren verhinderten dann vor allem die USA einen solchen Dialog. Sie befürchteten, dass Gespräche zwischen den beiden Organisationen die Marktentwicklung verzerren könnten. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die USA auf diese Weise ihre »Sprecherfunktion« der Ölverbraucherländer sichern wollten, zum Beispiel gegenüber so wichtigen Ländern wie Saudi-Arabien. Das Verhältnis wandelte sich dann 1990 im Kontext des Zweiten Golfkriegs. Einige arabische Länder unterstützten die Absicherung des von den USA angeführten Militäreinsatzes gegen den Irak durch die IEA, indem sie zusätzliches Öl förderten. Dadurch näherten sich auch die IEA und die OPEC an. Die zunächst informellen Gespräche sind mittlerweile institutionalisiert und finden im Rahmen des International Energy Forums (IEF) mit Sitz in Riad statt. Wir können also sehen: der Weg führte von der Konfrontation zur Kooperation.

Laura, den strategischen Entscheidungen solcher Gremien liegt oft auch wissenschaftliche Expertise zugrunde. Du interessierst Dich vor allem für die wirtschaftswissenschaftlichen Berater*innen. Welche Rolle spielten sie damals in der Bundesrepublik und welche Empfehlungen sprachen sie aus?

Kaiser: Umweltpolitik beschäftigt sich ja im Kern mit der Frage, wie menschliches Wirtschaften so gesteuert werden kann, dass die natürlichen Ressourcen der Erde sowohl gegenwärtigen als zukünftigen Generationen noch als Existenzgrundlage dienen können. Gerade im ersten Jahrzehnt seiner Beratungstätigkeit setzte sich der Umweltrat stark mit den volkswirtschaftlichen Kosten des Umweltschutzes auseinander, da das Ziel des Wirtschaftswachstums in Konflikt mit den Zielen der Umweltpolitik gesehen wurde. Um den Umweltschutz so effektiv und kosteneffizient wie möglich zu gestalten, sollten deshalb die durch Beseitigung und Vermeidung von Umweltschäden entstehenden Kosten so weit wie möglich von den privaten Verursacher*innen der Schäden getragen werden. Der SRU empfahl dann, stärker auf ökonomische Anreize zu setzen. Doch Umweltschutz mittels Kosten-Nutzen-Analysen zu betreiben stieß bei vielen Akteur*innen auf moralische Bedenken.

Thomas, Du erforschst, welche politischen Maßnahmen aus der wissenschaftlichen Expertise abgeleitet wurden, um den privaten Energiekonsum zu regulieren. Das bedeutet, Dich interessieren Initiativen zur Förderung eines umweltgerechten Verhaltens. Wird Dein Buch eine Erfolgsgeschichte oder eher eine Geschichte des Scheiterns?

Lettang: Weder noch. Ich denke, man muss den Blick für die Spannungsverhältnisse von Akteur*innen, Wissensbeständen und Machtverhältnissen schärfen. In diesem Sinne wird es eine Geschichte der Regulierungspraxis, die zwischen staatlichen Institutionen, Umweltverbänden und Energieversorgern ausgehandelt wurde und widersprüchliche, ambivalente Folgen mit sich brachte. In den 1970er-Jahren geriet beispielsweise zunehmend das von Laura angedeutete Paradigma ins Wanken, das Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch linear miteinander gekoppelt seien. Energieeffizienztechnologien haben seitdem auch im häuslichen Bereich stark an Bedeutung gewonnen. Dem ließen sich dann aber sogleich die sogenannten »Rebound-Effekte« entgegenhalten: Weder Energieressourcen, noch die damit verbundenen Geldoder Zeitressourcen, wurden letztlich tatsächlich »eingespart«. Stattdessen wurden sie an anderer Stelle sofort »reinvestiert« bzw. der Verbrauch der endlichen Energieträger lediglich in die Zukunft gestreckt.

Wie dachte man damals, würde sich der Energiekonsum steuern lassen?

Lettang: Über finanzielle Anreize, über Gebote und Verbote oder Aufklärungsmaßnahmen. Yolande Strengers hat für heutige Konzeptionen »smarter« Energie-Infrastrukturen in Haushalten die Figur des »Resource Man« herausgearbeitet. Ähnliche Vorstellungen lassen sich bereits in der Ratgeber-Literatur der 1970er-Jahre finden: Der oder die souveräne Konsument*in ist über die Kosten und Möglichkeiten, Energie zu sparen stets bestens informiert und richtet den eigenen Verbrauch allein auf Effizienz aus. Er oder sie, so die Überzeugung, sei deshalb über Informationen und Preise steuerbar. Diese imaginierten Konsument*innen kannten keine ökonomischen und sozialen Zwänge und Ideale. Heute wissen wir jedoch, dass solche Faktoren entscheidend für das Verständnis von Konsum sind. In der gegenwärtigen Debatte um die Einsparung von Energie und Emissionen scheint das aber oft unberücksichtigt zu bleiben, wenn wieder allzu große Hoffnungen in technische Innovation oder preisliche Steuerung gesetzt werden.

In der heutigen »Energiewende« finden sich doch sicherlich auch Überlegungen von damals wieder?

Lettang: Definitiv! Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten sind in jedem Fall zu erkennen. Die »Energiewenden« haben in der Bundesrepublik ja gewissermaßen mit der ersten Ölkrise begonnen. Damals wurde vor allem die Sicherung der Energieversorgung an erste Stelle gesetzt. Ein Ziel war, mehr Unabhängigkeit von importiertem Erdöl zu gewinnen. Der Begriff »Energiewende« wurde dann zu Beginn der 1980er-Jahre in der Debatte um die Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergie-Politik« von Vertretern sogenannter »sanfter« Energiepfade prominent besetzt.

Damit sind wir in den 1980er-Jahren. Im April 2021 jährt sich das Reaktorunglück von Tschernobyl zum 35. Mal. Ist das für Eure Forschungen eine wichtige Zäsur?

Türk: Ja, der Super-GAU von Tschernobyl 1986 ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Einschnitt. Wie zeitgenössische Umfragen belegen, sank das Ansehen der Atomkraft in der Bundesrepublik deutlich. Das wurde durch den wenig später stattfindenden Transnuklear-Skandal noch verstärkt. Der Ausbau der Atomkraft ließ sich daher kaum noch legitimieren. Die in den folgenden Jahren noch an den Start gegangenen Reaktoren waren alle bereits seit Anfang der 1980er-Jahre geplant und genehmigt worden. Neue Kernkraftwerksprojekte wurden nicht mehr in Angriff genommen. Tschernobyl führte in der Bundesrepublik auch dazu, dass erstmals ein Umweltministerium gegründet wurde, darauf hat Laura ja auch schon hingewiesen. Das Umweltministerium war unter anderem für den Bereich der ReaktorBonn, 1986: Menschen demonstrieren im Park der Villa Hammerschmidt gegen die Gefahren der Atomkraftsicherheit zuständig. Die entscheidenden energiepolitischen Kompetenzen verblieben allerdings beim Wirtschaftsministerium. Außerdem verstärkten sich durch die grenzüberschreitenden Folgen von Tschernobyl auch die Bemühungen zur internationalen Abstimmung. Das stärkte die Bedeutung internationaler Organisationen wie etwa der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

Wo wir unseren Blick schon gen Osteuropa schweifen lassen: Die Gaspipeline Nord Stream 2 soll bald fertig sein. Ihr Bau wird von Kritik und Protesten begleitet. Auch in den 1980erJahren waren die Erdgas-Geschäfte mit Russland bzw. der Sowjetunion heftig umstritten. Seht Ihr bei diesen Diskussionen Parallelen?

Türk: Da gibt es schon einige Parallelen. Auch in den 1980er-Jahren ging die Kritik vor allem von den USA aus. US-Präsident Ronald Reagan wollte die Sowjetunion ökonomisch in die Knie zwingen und sah deshalb die Gasgeschäfte mit der UdSSR kritisch. Zudem warnten die USA die Europäer vor einer zu großen Abhängigkeit vom sowjetischen Gas, da man Erpressungsversuche befürchtete. Um das Geschäft zu stoppen, verhängten die USA dann umfangreiche Sanktionen. Ich sehe aber auch einen entscheidenden Unterschied zu den gegenwärtigen Konflikten: An dem Gas-Pipeline-Deal in den 1980er-Jahren waren neben der Bundesrepublik weitere Länder beteiligt. Die westeuropäischen Staaten zogen an einem Strang und konnten die USA von einer Rücknahme der Sanktionen überzeugen. Dieser Rückhalt fehlt heute. Zudem gehören heute Polen und die baltischen Staaten zu den Partnern der Bundesrepublik. Deren Interessen wurden nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Themenfelder Umwelt und Energie haben in den letzten Jahren vor allem durch die »Fridays for Future«-Bewegung große Aufmerksamkeit erfahren. Jan-Henrik, du forschst unter anderem zur Rolle der Anti-Atomkraft-Bewegung. Erkennst du dabei Parallelen zum Auftreten von Fridays for Future?

Meyer: Eine ganz offenkundige Parallele ist die starke Beteiligung junger Menschen in beiden Bewegungen, und das Selbstverständnis eines Generationenkonflikts. Auch die Stoßrichtung zumindest des radikaleren Teils der Klima-Bewegung ist vergleichbar: Beide richteten sich gegen einen »Wachstumsfetischismus« und eine Politik des ungezügelten Ressourcenverbrauchs. Atomkraftwerksplanungen der 1960er- und 1970er-Jahre basierten auf der Erwartung ständig wachsenden Stromverbrauchs. Atomkraftwerke galten den Kritikern zudem als besonders ineffiziente und – wie man es heute nennen würde – wenig nachhaltige Art der Stromerzeugung. Kritik an einer solchen Nutzung auf Kosten der Zukunft steht bereits im Namen von Fridays for Future. Unterschiede sehe ich in Bezug auf die Einstellung zur Wissenschaft. Während sich die Anti Atom-Bewegung gegen einen stark pronuklearen Konsens in Forschung, Technik und Politik wandte, und erst ihre eigenen (wenigen, und überwiegend männlichen) Gegenexpert*innen gewinnen musste, rennt Fridays for Future bei der Wissenschaft offene Türen ein. Nur mit der politischen Umsetzung hapert es.

Durch die Corona-Krise gerieten viele andere Themenfelder in den Hintergrund. Ist die Pandemie für die Klima-Bewegung eine ernsthafte Gefahr?

Meyer: Es wird sehr davon abhängen, wie lange die Corona-bedingten Einschränkungen dauern und was sie am Ende kosten werden. Das wird beeinflussen, ob – wie auch 1974 nach der Ölkrise – die Wiederankurbelung der Wirtschaft und – wie in den 1990er- und 2010er-Jahren – die Sanierung der Staatsfinanzen zum vordringlichsten politischen Thema werden. Die Klimakrise wird aber nicht weggehen, und dass der Staat in einer Notlage zu bisher undenkbaren Maßnahmen und Eingriffen fähig ist, hat Corona ja auch gezeigt.

Lettang: Vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der Basis von Fridays for Future, bleibt die Klimakrise ein wichtiges Thema. Die Proteste im öffentlichen Raum sind auch nicht völlig versiegt und Aktionen gegen Infrastrukturprojekte wie dem Autobahnbau durch den Dannenröder Forst mobilisieren die Bewegung nach wie vor.

Zu Beginn der Krise kam die Hoffnung auf, dass durch das »Herunterfahren« mehrerer Wirtschaftszweige zumindest die Umwelt profitieren würde. Hat sich diese Vermutung bestätigt?

Meyer: Die Einschränkungen vor allem des Flugverkehrs und allgemein der Mobilität hat sicher kurzfristig »positive« Umweltfolgen. Auch essen wir im Home Office offenbar mehr Bio. Allerdings kommt es bei der Lösung von Umweltproblemen eher auf strukturelle Veränderungen an: Werden wir auch in Zukunft weniger fliegen und mehr per Videokonferenz diskutieren, oder gewinnt die gesellschaftliche Sehnsucht nach dem Zurück in die Normalität von 2019? Dabei kommt es auch darauf an, wie und nach welchen Maßstäben Führungskräfte in Zukunft entscheiden, weil sie viele dieser Strukturentscheidungen fällen.

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Interview: Energie- und Umweltpolitik mit Laura Kaiser, Thomas Lettang, Jan-Henrik Meyer und Henning Türk

23.08.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über das Themenfeld der Energie- und Umweltpolitik, die Anti-Atomkraft- und die Klimabewegung sprechen in diesem Interview Laura Kaiser, Thomas Lettang, Jan-Henrik Meyer und Henning Türk. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth.
 

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Bild von Matthias Böckel auf Pixabay 

In den 1970er-Jahren waren der Umweltschutz und die Gefahren der Atomenergie zentrale Anliegen zivilgesellschaftlicher Bewegungen. Zigtausende demonstrierten damals gegen den Bau neuer Kernkraftwerke. Auch viele Publikationen warnten ihre Leser*innen. Welche Ereignisse sind für die Entstehung der Umweltbewegung von Bedeutung? Wer engagierte sich damals aus welchen Gründen?

Meyer: Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre entstand »Umwelt« als neuer Begriff, als neues Problem- und Politikfeld, das Naturschutz und die neueren Verschmutzungsprobleme unter ökologischem Vorzeichen zusammendachte. Das spielte sich wissenschaftlich und politisch sehr stark international ab – unter führender Rolle der USA und Schwedens. Dabei spielten Umweltskandale wie das Torrey Canyon Tankerunglück von 1967, die Debatte über DDT, und die grenzüberschreitende Luftverschmutzung eine große Rolle darin, das politisch auf die Tagesordnung zu setzen. Es sind am Anfang eher diese öffentlichen Debatten als zivilgesellschaftlicher Protest.

Türk: Wenn man sich speziell die AntiAtomkraft-Bewegung als Teil der Umweltbewegung anschaut, lag der Beginn in sogenannten »Not in my backyard«-Bewegungen (NIMBY). Sie engagierten sich aus der Sorge, dass die Kernkraftwerke ihre lokale wirtschaftliche Existenzgrundlage oder ihre ländliche Heimat zerstören würden. Hinzu kamen einzelne kritische Wissenschaftler*innen, die auf Gefahren der Atomkraft für die Gesundheit aufmerksam machten. Die ersten Proteste spielten sich dementsprechend auch eher auf der juristischen Ebene ab. Das änderte sich dann erst, als Anfang/Mitte der 1970er-Jahre junge Leute aus linken studentischen Kreisen den Anti-Atom-Protest für sich entdeckten und neue Protestformen einbrachten. Eine wichtige Rolle spielten auch Ohnmachtserfahrungen gegenüber dem Staat und den Energieversorgungsunternehmen, die technische Großprojekte über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg durchzusetzen versuchten.

Du hast gerade schon angedeutet, dass Anti-Atomkraft- und Umwelt-Bewegung eng miteinander verbunden waren. Könntet ihr kurz erläutern, in welchem Zusammenhang damals Energie- und Umweltfragen gedacht wurden?

Lettang: Bereits in den 1950er-Jahren wurden die lokalen Umweltbelastungen auch als Folge der Energieerzeugung durch Kraftwerke problematisiert. Die Luftverschmutzung durch Staub-, Schwefel- und Stickstoffimmissionen, die Abwärmebelastung der Gewässer oder die Strahlenbelastung durch Kernenergie wurden aus landschafts- und naturschützerischen Traditionen und aus gesundheitspolitischen Erwägungen heraus zunehmend kritisiert. Die Kritik an negativen Umweltfolgen formulierten zumeist lokale Initiativen von unten. Dazu mischte sich eine stark modernitäts- und technikkritische Haltung im öffentlichen Diskurs, vor allem seitens konservativer Intellektueller.

Diese Debatten wurden sicherlich nicht nur in der Bundesrepublik ausgetragen?

Lettang: Richtig. Der Umweltschutzdiskurs wurde schon in den 1960er-Jahren internationaler. Schadstoffbelastungen der Luft machten eben nicht an Grenzen halt und wurden auch verstärkt als gemeinsame Probleme westlicher Industriegesellschaften wahrgenommen.

Inwiefern markierten die 1970er-Jahren dann eine Zäsur für das politische Denken und Handeln?

Lettang: Die Umwelt wurde zu einem zentralen Ort gesellschaftspolitischer Aushandlung. Patrick Kupper hat herfür den Begriff der »1970er-Diagnose« geprägt: Systemtheorie, Ökologie und Kybernetik verorteten den Menschen völlig neu im Verhältnis zur Natur und betonten die komplexen, interdependenten Zusammenhänge. Die öko-apokalyptischen Mahnungen – etwa der »Grenzen des Wachstums« – verwiesen auf die Endlichkeit der Ressourcen und die Ausbeutung der Natur. Natur konnte in diesem Sinne nicht mehr nur bewahrt werden; das Mensch-Natur-Verhältnis musste gestaltet werden. Umweltschutzinitiativen, die neben dem klassischen Naturschutz entstanden, und das staatliche Umweltprogramm waren ein Ausdruck dieser neuen Perspektive. Lösungsansätze gab es enorm viele: In Regierungsdebatten der 1970er- und 1980er-Jahre wurden generell sehr starke Hoffnungen in gesetzliche Verbote, Grenzwerte und technische Lösungen für Immissionen gesetzt. Ein Beispiel ist hier die Debatte um das Waldsterben. Parallel lässt sich auch ein verstärkter Einfluss von ökonomischem Denken auf Regulierungsprozesse nachzeichnen.

Mit diesem Wandel einher ging offenbar auch eine »Gründungswelle«. 1971 wurde beim Innenministerium der Sachverständigenrat für Umweltfragen, kurz Umweltrat oder SRU, eingerichtet. Laura, wie kam es dazu?

Kaiser: Der Umweltrat wurde unter der maßgeblichen Leitung des Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher im Kontext des ersten Umweltprogramms der Bundesregierung gegründet. In der Vorbereitung dieses Programms erhielt eine Projektgruppe den Auftrag, ein Konzept zu erarbeiten, wie sich die wissenschaftliche Beratung für die Umweltpolitik künftig organisieren ließe. Man entschied sich dann jedoch nicht für die eigentlich im Konzept vorgeschlagene Umweltkommission, der eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftler*innen zuarbeiten und die eine doppelte Funktion der ad hoc und langfristigen Beratung erhalten sollte. Stattdessen entschied man sich mit dem Sachverständigenrat für ein eher »klassisches« Gremium, das sich an der Form des Wirtschaftsrates orientierte.

Und womit genau beschäftigte sich dieses Gremium?

Kaiser: Offizielle Aufgabe des Umweltrates war es, regelmäßig Gesamtgutachten über den Zustand der Umwelt in der Bundesrepublik zu erstellen und umweltpolitische Empfehlungen auszusprechen. Da die ersten Gesamtgutachten aber nicht die erwünschte öffentliche Aufmerksamkeit erzielten, konzentrierte sich der Rat nach 1978 stärker auf Sondergutachten zu öffentlichkeitswirksameren Sachbereichen, für die auch spezifische Lösungsansätze entwickelt werden konnten. So entstanden z.B. Gutachten zur Verschmutzung des Rheins, zu den Waldschäden, der Nordsee und dem Themenbereich Energie und Umwelt.

In der DDR wurde 1972 das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR (MUW) gebildet. Warum dauerte es eigentlich so viele Jahre, bis dann 1986 das Bundesumweltministerium gegründet wurde?

Kaiser: In der Bundesrepublik war die Umweltpolitik in ministerielle Zuständigkeiten zersplittert. Es gab eine Konkurrenz zwischen den Ressorts auf Bundesebene einerseits und zwischen Bund und Ländern andererseits. Die Luftreinhaltung, der Gewässerschutz und die Lärmbekämpfung waren dem Ministerium des Innern unterstellt. Die Landschaftspflege und der Naturschutz fielen in die Zuständigkeit des Bonn, 1979: Der Bundesverband der Bürgerinitiativen für den Umweltschutz demonstriert im Hofgarten gegen die Nutzung von Atomkraft. Landwirtschaftsministeriums. Die gesundheitlichen Belange des Umweltschutzes – also etwa die Strahlenhygiene und Rückstände von Schadstoffen in Lebensmitteln und Chemikalien – waren dem Gesundheitsministerium zugeordnet. Erst nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl wurden diese Bereiche im Umweltministerium vereint. Das lange Festhalten an diesen Zuständigkeiten kann durchaus als Konfliktvermeidungsstrategie gewertet werden. Ein vergleichbares Konfliktpotential hat es in der DDR aufgrund ihrer zentralistischen Struktur nicht gegeben.

Jan-Henrik, Anfang der 1970er-Jahre begann auch die Europäische Gemeinschaft (EG), eine gemeinsame Umweltpolitik zu entwickeln. Wie kam es dazu?

Meyer: Am Anfang der europäischen Umweltpolitik steht eine Initiative des damals völlig machtlosen, nicht einmal direkt gewählten Europäischen Parlaments, das auf ein Fischsterben im Rhein im Sommer 1969 reagiert. Niederländische Abgeordnete forderten die EG zum Handeln auf, weil die Wasservergiftung grenzüberschreitend in den Niederlanden die Wasserversorgung gefährdet. Die Parlamentarier schoben dann gleich einen Bericht über Luftverschmutzung hinterher, um Umwelt als Ganzes auf die Tagesordnung der EG zu setzen.

Die Gewässer- und die Luftverschmutzung stand also anfangs im Mittelpunkt des politischen Interesses auf europäischer Ebene?

Meyer: Genau, die neue Umweltpolitik umfasste die Umweltmedien Wasser und Luft und deren Verschmutzung. Da es keine Vertragsgrundlage für das Umweltthema gab, war für die Zuständigkeit der EG relevant, dass es sich um grenzüberschreitende oder für den Handel im Binnenmarkt relevante Themen handelte.

Gab es vor diesem Engagement der EG bereits grenzübergreifende Initiativen oder beginnt die transnationale Zusammenarbeit tatsächlich erst zu diesem Zeitpunkt?

Meyer: Es gab bereits seit 1950 die International Commission for the Protection of the Rhine against Pollution (ICPRP), in der sich die Rheinanlieger dem Schutz des Rheinwassers verschrieben. Allerdings war diese Kommission ein zahnloser Tiger. In Westeuropa war der 1949 gegründete Europarat für die Fragen von Naturschutz zuständig, erließ 1967/1968 auch Charten gegen Luft- und Wasserverschmutzung, und erklärte 1970 zum Europäischen Umweltjahr. Dieses fiel genau in die Zeit wachsenden Umweltinteresses, und so konkurrierten Anfang der 1970er-Jahre verschiedene internationale und regionale Organisationen um die Behandlung und Regulierung der neuen Umweltfragen: neben dem Europarat auch die NATO und die OECD, und mit der Stockholmer Konferenz von 1972 die UN. Erst nach der UN-Konferenz konnten sich die EG-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Umweltpolitik einigen. Die EG war in dieser Hinsicht also eher spät dran. Angler am Rhein-Herne-Kanal 

Auch das Thema Energiepolitik wurde ab den 1970er-Jahren verstärkt international verhandelt. Henning, Du nimmst die 1974 von 16 Staaten gegründete Internationale Energieagentur (IEA) in den Blick. Sie ist Teil der OECD. Was versprach man sich damals von der Gründung?

Türk: Die Gründung der IEA erfolgte ja im Kontext der ersten Ölkrise. Insofern versprachen sich die westlichen Ölverbraucherländer, durch ihre Zusammenarbeit zukünftige Ölkrisen zu verhindern oder zumindest besser mit ihnen umgehen zu können. Dafür verpflichteten sie sich zum Beispiel, umfangreiche Ölreserven anzulegen. Darüber hinaus hatten die einzelnen Länder unterschiedliche Erwartungen. Die europäischen Mitgliedsländer setzten etwa auf einen Technologietransfer im Energiebereich von den USA nach Europa. Im Gegenzug erwarteten die USA eine engere außenpolitische Abstimmung unter den Mitgliedsländern der IEA. Sie hatten aus der ersten Ölkrise den Schluss gezogen, dass die europäischen Länder durch ihre große Abhängigkeit vom Öl politisch erpressbar seien. Die USA wollten daher einer möglichen Spaltung des »Westens« bei weiteren Ölkrisen durch die Zusammenarbeit in der IEA einen Riegel vorschieben.

Kannst du ein wenig berichten, was die Agentur genau macht und wie sie arbeitet?

Türk: Vielen ist die IEA gar nicht bekannt, weil sie vor allem im Hintergrund arbeitet. In der Öffentlichkeit taucht sie meistens in zwei Zusammenhängen auf. Zum einen greift sie in den Markt ein, wenn das Ölangebot durch externe Schocks einbricht. Zum anderen veröffentlicht die IEA jährlich den World Energy Outlook, mit dem sie die zukünftige Förderung und den Verbrauch von Energieressourcen prognostiziert. Daran entzündete sich seit den 1990er-Jahren scharfe Kritik. So warfen die Befürworter*innen der erneuerbaren Energien der IEA vor, das Potenzial von Windkraft oder Solarenergie systematisch herunterzurechnen. Deswegen gibt es mittlerweile auch eine Art Gegenorganisation: die International Renewable Energy Agency (IRENA), die die Verbreitung der erneuerbaren Energien fördert.

Und in welchem Verhältnis steht die IEA zur OPEC?

Türk: Das ist eine spannende Frage, denn das Verhältnis wandelte sich im Laufe der Zeit sehr stark. So wurde die IEA bei ihrer Gründung 1974 von der OPEC als Gegenorganisation wahrgenommen. Alle Versuche, einen offiziellen Dialog zwischen den beiden Organisationen in dieser Phase zustande zu bringen, blockte die OPEC ab. So kam es nur zu informellen Begegnungen, etwa am Rande von wissenschaftlichen Konferenzen. In den 1980er-Jahren verhinderten dann vor allem die USA einen solchen Dialog. Sie befürchteten, dass Gespräche zwischen den beiden Organisationen die Marktentwicklung verzerren könnten. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die USA auf diese Weise ihre »Sprecherfunktion« der Ölverbraucherländer sichern wollten, zum Beispiel gegenüber so wichtigen Ländern wie Saudi-Arabien. Das Verhältnis wandelte sich dann 1990 im Kontext des Zweiten Golfkriegs. Einige arabische Länder unterstützten die Absicherung des von den USA angeführten Militäreinsatzes gegen den Irak durch die IEA, indem sie zusätzliches Öl förderten. Dadurch näherten sich auch die IEA und die OPEC an. Die zunächst informellen Gespräche sind mittlerweile institutionalisiert und finden im Rahmen des International Energy Forums (IEF) mit Sitz in Riad statt. Wir können also sehen: der Weg führte von der Konfrontation zur Kooperation.

Laura, den strategischen Entscheidungen solcher Gremien liegt oft auch wissenschaftliche Expertise zugrunde. Du interessierst Dich vor allem für die wirtschaftswissenschaftlichen Berater*innen. Welche Rolle spielten sie damals in der Bundesrepublik und welche Empfehlungen sprachen sie aus?

Kaiser: Umweltpolitik beschäftigt sich ja im Kern mit der Frage, wie menschliches Wirtschaften so gesteuert werden kann, dass die natürlichen Ressourcen der Erde sowohl gegenwärtigen als zukünftigen Generationen noch als Existenzgrundlage dienen können. Gerade im ersten Jahrzehnt seiner Beratungstätigkeit setzte sich der Umweltrat stark mit den volkswirtschaftlichen Kosten des Umweltschutzes auseinander, da das Ziel des Wirtschaftswachstums in Konflikt mit den Zielen der Umweltpolitik gesehen wurde. Um den Umweltschutz so effektiv und kosteneffizient wie möglich zu gestalten, sollten deshalb die durch Beseitigung und Vermeidung von Umweltschäden entstehenden Kosten so weit wie möglich von den privaten Verursacher*innen der Schäden getragen werden. Der SRU empfahl dann, stärker auf ökonomische Anreize zu setzen. Doch Umweltschutz mittels Kosten-Nutzen-Analysen zu betreiben stieß bei vielen Akteur*innen auf moralische Bedenken.

Thomas, Du erforschst, welche politischen Maßnahmen aus der wissenschaftlichen Expertise abgeleitet wurden, um den privaten Energiekonsum zu regulieren. Das bedeutet, Dich interessieren Initiativen zur Förderung eines umweltgerechten Verhaltens. Wird Dein Buch eine Erfolgsgeschichte oder eher eine Geschichte des Scheiterns?

Lettang: Weder noch. Ich denke, man muss den Blick für die Spannungsverhältnisse von Akteur*innen, Wissensbeständen und Machtverhältnissen schärfen. In diesem Sinne wird es eine Geschichte der Regulierungspraxis, die zwischen staatlichen Institutionen, Umweltverbänden und Energieversorgern ausgehandelt wurde und widersprüchliche, ambivalente Folgen mit sich brachte. In den 1970er-Jahren geriet beispielsweise zunehmend das von Laura angedeutete Paradigma ins Wanken, das Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch linear miteinander gekoppelt seien. Energieeffizienztechnologien haben seitdem auch im häuslichen Bereich stark an Bedeutung gewonnen. Dem ließen sich dann aber sogleich die sogenannten »Rebound-Effekte« entgegenhalten: Weder Energieressourcen, noch die damit verbundenen Geldoder Zeitressourcen, wurden letztlich tatsächlich »eingespart«. Stattdessen wurden sie an anderer Stelle sofort »reinvestiert« bzw. der Verbrauch der endlichen Energieträger lediglich in die Zukunft gestreckt.

Wie dachte man damals, würde sich der Energiekonsum steuern lassen?

Lettang: Über finanzielle Anreize, über Gebote und Verbote oder Aufklärungsmaßnahmen. Yolande Strengers hat für heutige Konzeptionen »smarter« Energie-Infrastrukturen in Haushalten die Figur des »Resource Man« herausgearbeitet. Ähnliche Vorstellungen lassen sich bereits in der Ratgeber-Literatur der 1970er-Jahre finden: Der oder die souveräne Konsument*in ist über die Kosten und Möglichkeiten, Energie zu sparen stets bestens informiert und richtet den eigenen Verbrauch allein auf Effizienz aus. Er oder sie, so die Überzeugung, sei deshalb über Informationen und Preise steuerbar. Diese imaginierten Konsument*innen kannten keine ökonomischen und sozialen Zwänge und Ideale. Heute wissen wir jedoch, dass solche Faktoren entscheidend für das Verständnis von Konsum sind. In der gegenwärtigen Debatte um die Einsparung von Energie und Emissionen scheint das aber oft unberücksichtigt zu bleiben, wenn wieder allzu große Hoffnungen in technische Innovation oder preisliche Steuerung gesetzt werden.

In der heutigen »Energiewende« finden sich doch sicherlich auch Überlegungen von damals wieder?

Lettang: Definitiv! Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten sind in jedem Fall zu erkennen. Die »Energiewenden« haben in der Bundesrepublik ja gewissermaßen mit der ersten Ölkrise begonnen. Damals wurde vor allem die Sicherung der Energieversorgung an erste Stelle gesetzt. Ein Ziel war, mehr Unabhängigkeit von importiertem Erdöl zu gewinnen. Der Begriff »Energiewende« wurde dann zu Beginn der 1980er-Jahre in der Debatte um die Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergie-Politik« von Vertretern sogenannter »sanfter« Energiepfade prominent besetzt.

Damit sind wir in den 1980er-Jahren. Im April 2021 jährt sich das Reaktorunglück von Tschernobyl zum 35. Mal. Ist das für Eure Forschungen eine wichtige Zäsur?

Türk: Ja, der Super-GAU von Tschernobyl 1986 ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Einschnitt. Wie zeitgenössische Umfragen belegen, sank das Ansehen der Atomkraft in der Bundesrepublik deutlich. Das wurde durch den wenig später stattfindenden Transnuklear-Skandal noch verstärkt. Der Ausbau der Atomkraft ließ sich daher kaum noch legitimieren. Die in den folgenden Jahren noch an den Start gegangenen Reaktoren waren alle bereits seit Anfang der 1980er-Jahre geplant und genehmigt worden. Neue Kernkraftwerksprojekte wurden nicht mehr in Angriff genommen. Tschernobyl führte in der Bundesrepublik auch dazu, dass erstmals ein Umweltministerium gegründet wurde, darauf hat Laura ja auch schon hingewiesen. Das Umweltministerium war unter anderem für den Bereich der ReaktorBonn, 1986: Menschen demonstrieren im Park der Villa Hammerschmidt gegen die Gefahren der Atomkraftsicherheit zuständig. Die entscheidenden energiepolitischen Kompetenzen verblieben allerdings beim Wirtschaftsministerium. Außerdem verstärkten sich durch die grenzüberschreitenden Folgen von Tschernobyl auch die Bemühungen zur internationalen Abstimmung. Das stärkte die Bedeutung internationaler Organisationen wie etwa der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

Wo wir unseren Blick schon gen Osteuropa schweifen lassen: Die Gaspipeline Nord Stream 2 soll bald fertig sein. Ihr Bau wird von Kritik und Protesten begleitet. Auch in den 1980erJahren waren die Erdgas-Geschäfte mit Russland bzw. der Sowjetunion heftig umstritten. Seht Ihr bei diesen Diskussionen Parallelen?

Türk: Da gibt es schon einige Parallelen. Auch in den 1980er-Jahren ging die Kritik vor allem von den USA aus. US-Präsident Ronald Reagan wollte die Sowjetunion ökonomisch in die Knie zwingen und sah deshalb die Gasgeschäfte mit der UdSSR kritisch. Zudem warnten die USA die Europäer vor einer zu großen Abhängigkeit vom sowjetischen Gas, da man Erpressungsversuche befürchtete. Um das Geschäft zu stoppen, verhängten die USA dann umfangreiche Sanktionen. Ich sehe aber auch einen entscheidenden Unterschied zu den gegenwärtigen Konflikten: An dem Gas-Pipeline-Deal in den 1980er-Jahren waren neben der Bundesrepublik weitere Länder beteiligt. Die westeuropäischen Staaten zogen an einem Strang und konnten die USA von einer Rücknahme der Sanktionen überzeugen. Dieser Rückhalt fehlt heute. Zudem gehören heute Polen und die baltischen Staaten zu den Partnern der Bundesrepublik. Deren Interessen wurden nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Themenfelder Umwelt und Energie haben in den letzten Jahren vor allem durch die »Fridays for Future«-Bewegung große Aufmerksamkeit erfahren. Jan-Henrik, du forschst unter anderem zur Rolle der Anti-Atomkraft-Bewegung. Erkennst du dabei Parallelen zum Auftreten von Fridays for Future?

Meyer: Eine ganz offenkundige Parallele ist die starke Beteiligung junger Menschen in beiden Bewegungen, und das Selbstverständnis eines Generationenkonflikts. Auch die Stoßrichtung zumindest des radikaleren Teils der Klima-Bewegung ist vergleichbar: Beide richteten sich gegen einen »Wachstumsfetischismus« und eine Politik des ungezügelten Ressourcenverbrauchs. Atomkraftwerksplanungen der 1960er- und 1970er-Jahre basierten auf der Erwartung ständig wachsenden Stromverbrauchs. Atomkraftwerke galten den Kritikern zudem als besonders ineffiziente und – wie man es heute nennen würde – wenig nachhaltige Art der Stromerzeugung. Kritik an einer solchen Nutzung auf Kosten der Zukunft steht bereits im Namen von Fridays for Future. Unterschiede sehe ich in Bezug auf die Einstellung zur Wissenschaft. Während sich die Anti Atom-Bewegung gegen einen stark pronuklearen Konsens in Forschung, Technik und Politik wandte, und erst ihre eigenen (wenigen, und überwiegend männlichen) Gegenexpert*innen gewinnen musste, rennt Fridays for Future bei der Wissenschaft offene Türen ein. Nur mit der politischen Umsetzung hapert es.

Durch die Corona-Krise gerieten viele andere Themenfelder in den Hintergrund. Ist die Pandemie für die Klima-Bewegung eine ernsthafte Gefahr?

Meyer: Es wird sehr davon abhängen, wie lange die Corona-bedingten Einschränkungen dauern und was sie am Ende kosten werden. Das wird beeinflussen, ob – wie auch 1974 nach der Ölkrise – die Wiederankurbelung der Wirtschaft und – wie in den 1990er- und 2010er-Jahren – die Sanierung der Staatsfinanzen zum vordringlichsten politischen Thema werden. Die Klimakrise wird aber nicht weggehen, und dass der Staat in einer Notlage zu bisher undenkbaren Maßnahmen und Eingriffen fähig ist, hat Corona ja auch gezeigt.

Lettang: Vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der Basis von Fridays for Future, bleibt die Klimakrise ein wichtiges Thema. Die Proteste im öffentlichen Raum sind auch nicht völlig versiegt und Aktionen gegen Infrastrukturprojekte wie dem Autobahnbau durch den Dannenröder Forst mobilisieren die Bewegung nach wie vor.

Zu Beginn der Krise kam die Hoffnung auf, dass durch das »Herunterfahren« mehrerer Wirtschaftszweige zumindest die Umwelt profitieren würde. Hat sich diese Vermutung bestätigt?

Meyer: Die Einschränkungen vor allem des Flugverkehrs und allgemein der Mobilität hat sicher kurzfristig »positive« Umweltfolgen. Auch essen wir im Home Office offenbar mehr Bio. Allerdings kommt es bei der Lösung von Umweltproblemen eher auf strukturelle Veränderungen an: Werden wir auch in Zukunft weniger fliegen und mehr per Videokonferenz diskutieren, oder gewinnt die gesellschaftliche Sehnsucht nach dem Zurück in die Normalität von 2019? Dabei kommt es auch darauf an, wie und nach welchen Maßstäben Führungskräfte in Zukunft entscheiden, weil sie viele dieser Strukturentscheidungen fällen.

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