Interview: Bildethik - Zum Umgang mit historischen Fotografien mit Christine Bartlitz, Robert Mueller-Stahl, Sandra Starke und Annette Vowinckel

23.08.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über die Visual History, also die Forschung zum Umgang mit historischem Bildmaterial, sprechen in diesem Interview Christine Bartlitz, Robert Mueller-Stahl, Sandra Starke und Annette Vowinckel. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 

Filmrolle
Foto via pexels

Im Sommer 2020 entschied Magnum Photos, als diskriminierend erachtete Fotografien aus der Datenbank der Bildagentur zu entfernen und diese einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Ausschlaggebend dafür war die Kritik an einer Bildserie aus dem Jahr 1989. Die Fotos des bekannten Fotojournalisten David Alan Harvey zeigen thailändische Sexarbeiterinnen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme waren einige der abgebildeten Frauen noch minderjährig, was auch der Verschlagwortung der Bilder zu entnehmen war. Schließlich wurde der Fotograf generell von Magnum suspendiert, als öffentlich wurde, dass mehrere Frauen ihn sexueller Übergriffe beschuldigten. Christine, kurz bevor dieser Fall Schlagzeilen machte, habt ihr auf unserem Online-Portal »Visual History« ein neues Themendossier zur Bildethik veröffentlicht, dem nun regelmäßig weitere Texte hinzugefügt werden. Wie seid ihr auf das Thema gekommen?

Bartlitz: Es gab eine Anfrage an die Online-Redaktionen des ZZF. Eine Kollegin, Sarah Dellmann, erkundigte sich, ob wir für unsere tägliche Arbeit eigentlich schriftlich fixierte Richtlinien hätten, wie wir mit Bildmaterial umgehen, das diskriminierende oder abwertende Einstellungen zum Ausdruck bringt oder Persönlichkeitsrechte missachtet. Nein, so etwas hatten wir nicht. Bei der anschließenden Diskussion darüber ist uns klar geworden, dass wir zwar immer sehr genau abwägen, wie wir mit solchen Bildern umgehen, aber der Austausch darüber nur selten die Redaktionsräume verlässt. Und genau das wollten wir mit dem am ZZF veranstalteten Workshop 2019 und dem im letzten Jahr veröffentlichten Themendossier »Bildethik – Zum Umgang mit Bildern im Internet« auf Visual History ändern.

Damit habt ihr ja durchaus Neuland betreten. Annette, in der medialen Öffentlichkeit wird seit einigen Jahren intensiv über diskriminierende Sprache debattiert, aber bisher kaum über eine vergleichbare Wirkung von Fotografien. Auch in der Forschung scheint der ethische Umgang mit Bildern bisher nur selten ein Thema zu sein. Warum ist das so?

Vowinckel: Bilder werden weniger ernst genommen als Worte.

Bartlitz: Ja, viele Historiker*innen kennen sich auch einfach nicht mit Bildern aus. Sie nutzen Fotografien nicht als Quellen oder Forschungsgegenstand, sondern rein illustrativ. »Welches Bild kommt auf das Cover meines Buches?«, ist dann die wichtigste Frage.

Vowinckel: In der akademischen Welt haben Bilder lange eine untergeordnete Rolle gespielt: Sie sind der »bloße Schein«, darunter liegt (vermeintlich?) eine Wahrheit, die nur sprachlich fassbar ist. Es braucht schon eine gewisse Sensibilisierung für die Idee, dass ein Bild auch ein Argument sein kann, dass es Einstellungen und Wahrnehmungen prägt und sogar diskriminieren kann. Ich glaube, dass diese Sensibilität in einer Zeit, in der Identität zunehmend öffentliche Diskurse prägt, deutlich zunehmen wird. Da ist es sinnvoll, sich mit qualifizierten Beiträgen einzumischen – manchmal vielleicht auch mit mäßigenden Worten.

Eine solch illustrativ-dekorative Nutzung, wie Christine sie kritisiert, lässt sich auch auf vielen Websites beobachten. Im Vorwort für das neue Dossier betont ihr deshalb, dass ihr auch einen Austausch über den Umgang mit historischem Bildmaterial in Online-Umgebungen anregen möchtet. Was kennzeichnet denn bisher diesen Umgang?

Vowinckel: Ich beobachte, dass der Umgang mit Bildern im Netz von einer Mischung aus Unwissenheit, Unsicherheit und manchmal Gedankenlosigkeit geprägt ist. Unwissenheit herrscht oft bezüglich der Urheber- und Persönlichkeitsrechte. Wer sich bewusst macht, dass man beide schützen sollte, wird leicht verunsichert. Darf ich ein Foto, das ich bei einem Straßenfest gemacht habe, ins Netz stellen? Für welche Zwecke darf ich ein bei Wikimedia Commons eingestelltes Bild weiterverwenden? Was gibt es überhaupt für Lizenzen? Was passiert bei einem möglicherweise unbeabsichtigten Verstoß gegen geltende Spielregeln? Parallel beobachte ich, dass gedankenlos Bilder gepostet oder als Illustration verwendet werden, ohne dass vorab überlegt wird, welche Folgen dies zum Beispiel für die abgebildeten Personen haben könnte oder unter welchen Bedingungen das Bild aufgenommen wurde. Unser Schwerpunkt ist ein Versuch, ein Auseinanderdriften beider Herangehensweisen abzumildern und anhand von Beispielen zu zeigen, was es zu bedenken gilt und welche Lösungen sinnvoll sein können.

Und was genau gibt es zu bedenken? Welche Aspekte sollten Historikerinnen und Historiker zum Beispiel bei der Auswahl von Fotografien für eine Publikation oder eine Ausstellung beachten?

Bartlitz: Zuallererst sollte ich als Historikerin Verantwortung übernehmen für die Präsentation dieses Bildes: Was weiß ich über den Entstehungskontext, über die Fotograf*in, zu den fotografierten Personen sowie zur Distribution und Verwendung? Was war die Intention des Fotografen, welche Machtverhältnisse liegen dem Bild zugrunde? Diese Informationen – soweit ich sie recherchieren kann – sollte ich im besten Fall in der Bildunterschrift mit veröffentlichen. Außerdem geht es auch um Persönlichkeitsrechte. Viele Menschen, deren Fotos zu Ikonen geworden sind, haben dafür nie einen Cent bekommen, meistens sind sie nicht einmal gefragt worden. Dabei ist das »Recht am eigenen Bild« in Deutschland besonders streng geregelt. Wer nicht als »Person der Zeitgeschichte« oder als Teil einer größeren Gruppe auf einem veröffentlichten Foto zu sehen ist, kann dagegen gerichtlich vorgehen.

Vowinckel: Ich möchte noch auf eine andere Dimension hinweisen: Der Beutelsbacher Konsens von 1976 besagt unter anderem, dass man Menschen mit den Dingen, mit denen man sie konfrontiert – seien es Texte, Bilder oder Filme –, nicht überwältigen soll. Wenn ich also Fotos von einem Massaker zeige, muss ich im Kopf behalten, dass ein Betrachter oder eine Betrachterin das Gezeigte möglicherweise seelisch nicht verarbeiten kann. Das gilt besonders für Kinder, die ja mit ihren Smartphones oder Tablets auch im Netz unterwegs sind. Das gilt aber auch für viele Erwachsene, die möglicherweise eigene Gewalterfahrungen mitbringen oder besonders sensibel auf visuelle Medien reagieren. Es braucht also ein gewisses Maß an Empathie gerade bei den eher illustrativen Bildern, und bei Bildern, die als Argumente oder Quellen verwendet werden, vielleicht einen Hinweis im Vorfeld.

Da sprichst Du ein wichtiges Thema an, Annette. Großformatige Bilder, die grausame Verbrechen zeigen, werden ja auch nicht selten in Ausstellungen zur Geschichte der Shoah gezeigt. Sie lassen die Besucher*innen vor Betroffenheit innehalten und erschauern. Obwohl, wie Du sagst, eine solche »Überwältigungspädagogik« heute kritisch gesehen wird , ist dieser Effekt doch manchmal sicherlich auch intendiert?

Starke: Sicherlich ist dieser Effekt mit einkalkuliert. Auf eine emotionalisierende Wirkung können Ausstellungsmacher*innen kaum verzichten. Tatsächlich aber werden Gewaltdarstellungen heute immer öfter in Ausstellungen mit Warnhinweisen versehen und »versteckt«, so dass Besucher*innen selbst entscheiden können, ob sie das Bild zu diesem Zeitpunkt sehen möchten.

Bartlitz: Letztlich müssen wir die Balance halten zwischen dem Generieren von Aufmerksamkeit und Emotionalität auf der einen Seite und der ethischen Dimension auf der anderen Seite. Es braucht vielfach Bilder, um den Schrecken erfassen zu können. Die Verantwortung liegt dann bei uns als Historiker*innen, Kurator*innen etc., die Menschen durch die Präsentation nicht zu überwältigen, sondern ihnen die Chance zu geben, nachzuvollziehen, wie diese Aufnahmen entstanden sind. Dabei sollten wir uns fragen, ob die visuelle Dokumentation tatsächlich der Aufklärung dient oder ob sie die Diskriminierung und eine Position der Schwäche fortschreibt.

Starke: Der Entstehungskontext wird tatsächlich nur selten problematisiert. Relativ häufig findet sich noch die Praxis, etwa Opfer der Shoah als lebensgroße Figuren zu zeigen, um eine emotionale Identifizierung mit ihnen zu ermöglichen. Da die Fotos aber fast alle aus den Kameras der Täter stammen und somit deren Blick reproduzieren, sehen ich und viele andere Forscher*innen auch diese Darstellung kritisch.

Vielleicht können wir eure Gedankengänge anhand eines Beispiels noch anschaulicher machen. Worauf würdet ihr denn achten, wenn ihr Fotografien zusammenstellen müsstet für eine Ausstellung, die sich dem Holocaust widmet?

Starke: Immer wieder sehe ich Fotos von hochrangigen Nationalsozialisten als Entscheidungsträger, die den Massenmord, sozusagen vom Schreibtisch aus, anleiteten. Ein solcher Eindruck sollte nicht unbedingt entstehen. Viele »normale« Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen mitgemacht und waren aktiv beteiligt. Auch die technische Überlegenheit der Waffen wie der V2-Rakete ist ein Märchen, das ich nicht mehr hören will. Die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora hat das gut gelöst. Dort wird nicht nur von den unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge unter Tage berichtet, auch werden Dokumente und Fotos von den zahllosen Fehlstarts der Rakete gezeigt, um den Mythos ihrer Effizienz zu brechen.

Bartlitz: Sandra hat es ja eben schon gesagt: Es gibt fast nur Fotos vom Holocaust, die von den Tätern gemacht worden sind. Das würde ich thematisieren. Kurator*innen haben vorgeschlagen, diese Bilder der SS-Fotografen aus den Konzentrationslagern nur klein, in der Originalgröße, auszustellen und den Kontext ihrer Entstehung genau zu beschreiben. Außerdem lassen sich solche Bilder auch brechen, zum Beispiel indem ich die Perspektive der Häftlinge zeichnerisch darstelle: Wo stand der Fotograf, wie hat er die Aufnahme in Szene gesetzt? Wichtig ist auch, dass es Gegenbilder gibt. Die Menschen sollten nicht nur als abgemagerte KZ-Häftlinge gezeigt werden, sondern als individuelle Persönlichkeiten aus der Zeit vor der Verfolgung und Ermordung mit ihren Freund*innen, Kindern, Familien.

Vowinckel: Ich schließe mich Sandra und Christine an. Eines der beeindruckendsten Bilder von Holocaust-Überlebenden ist eines, auf dem vier junge Männer sehr direkt, zum Teil fast aggressiv, zum Teil mit einem Anflug von Lächeln in die Kamera blicken. Obwohl die Männer extrem abgemagert sind, entspricht das Foto überhaupt nicht den vielen Bildern, auf denen wir passive und (vermeintlich) willenlose Opfer sehen.

Ein visuelles Qualitätskriterium ist für mich immer das Irritationspotenzial. Zeigt das Bild das, was wir schon im Kopf haben und bestätigt sehen wollen? Oder eröffnet es neue Perspektiven, unterbricht es Routinen, provoziert es vielleicht auch?

Mueller-Stahl: Eine solche Multiperspektivität scheint mir ganz wichtig. Und ich denke, sie lässt sich auch abseits so eindrücklicher, in der Überlieferung aber doch fast singulärer Bilder herstellen, wie Du, Annette, sie ansprichst. Ich stimme Christine ganz zu, dass im weitesten Sinne Selbstbildnisse der Verfolgten einen wichtigen Teil dazu beitragen können. Das mag irritieren, denn in den privaten Bildern des jüdischen Lebens vor dem Holocaust wird natürlich meistens ein Ideal des guten Lebens entworfen, auch dann, wenn Anfeindung und Ausschluss schon allgegenwärtig waren. Emigration und Flucht etwa werden fotografisch fast immer als Reise gerahmt. Gerade das aber macht sie so spannend. Über die Bilder lassen sich Fragen nach Erzählungs- und Handlungsmacht ganz neu stellen. Im Kontrast zu den Aufnahmen des Schreckens verharmlosen und relativieren sie nichts, sondern zeigen die Reichweite des Holocaust erst wirklich auf.

Starke: Ja, die Entstehung eines Fotos sollte immer mit betrachtet werden. Oft sind Bilder beispielsweise von einem ungleichen Machtverhältnis von Fotograf*in und Fotografierten geprägt. Viele sind unter Zwang entstanden. Wünschenswert ist für uns als Wissenschaftler*innen deshalb, allgemein das Bewusstsein zu wecken dafür, dass Fotos eben keine einfachen Abbilder der Realität sind. Sie sind eigenständig als Quellen und sollten deshalb sehr genau betrachtet werden.

Mueller-Stahl: Ja, sonst versteht man sie teils auch gar nicht oder interpretiert sie falsch. Die Aufnahmen von Herbert Sonnenfeld sind ein Beispiel dafür, wie wichtig der Entstehungskontext ist. Er wurde in den 1930er-Jahren zu einem der wichtigsten Fotografen jüdischen Lebens im nationalsozialistischen Berlin. Dabei war er sehr darauf bedacht, besonders Momente gemeinschaftlichen Lebens einzufangen. Feste, Sportveranstaltungen, auch mal ein Picknick im Park. Verfolgung und Ausschluss oder Leid sind in den Berliner Bildern hingegen kaum zu finden. Und doch bilden diese den Hintergrund, vor dem die Fotografien entstanden und auf die sie rekurrieren. Lässt man dies außen vor, verlieren die Aufnahmen völlig ihre Bedeutung. Buchenwald, Mitte Mai 1945: jugendliche Häftlinge vier Wochen nach der Befreiung des Lagers durch die US-Armee

Das Motiv ist also entscheidend, aber auch dessen Entstehung und Distribution. Hier geraten der Fotograf oder die Fotografin bzw. deren Auftraggeber*in in den Blick. Annette, du hast dich intensiv mit den »Agenten der Bilder« beschäftigt. Wo ist da Vorsicht oder zumindest mehr Sensibilität geboten?

Vowinckel: Ebenso wie die Verfasser*innen von Texten leben die Urheber*innen von Bildern nicht in einem luftleeren Raum. Sie haben eine Vorgeschichte und oft eine Agenda. Wenn ich im Auftrag des Bundespresseamts die Kanzlerin fotografiere, wird dabei kein Bild an die Öffentlichkeit gelangen, auf dem sie besonders unvorteilhaft aussieht. Wenn ich für eine Hilfsorganisation unterwegs bin, werde ich Not und Elend zeigen, um die Notwendigkeit meiner Tätigkeit zu begründen. Wir sollten deshalb immer darauf achten, wer ein Bild unter welchen Bedingungen und mit welchem Auftrag gemacht und wer es für welchen Zweck ausgewählt hat. Das zu wissen ist schön, reicht aber oft noch nicht für eine einfache Interpretation. Ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert die Lage sein kann, sind die Fotos von Paparazzi in der Boulevardpresse. Sie sind das Ergebnis eines Eingriffs in die Privatsphäre von Menschen, die sich dagegen möglicherweise deshalb kaum wehren können, weil sie »Personen der Zeitgeschichte« sind und Öffentlichkeit in Kauf nehmen müssen. Rechtlich können sie zwar gegen Hausfriedensbruch oder Nötigung vorgehen, nicht aber gegen das Bild als Artefakt. Allerdings sind gerade Karrieren von Prominenten auch davon abhängig, dass diese Art von Interesse überhaupt erst entsteht, und die, die sich über die Praxis von Paparazzi beschweren, sind Teil ihrer Kundschaft, wenn sie Boulevardzeitungen kaufen. Es ist und bleibt kompliziert, und unsere Aufgabe ist es, genau das zum Thema zu machen. Ein ganz praktischer Einwand: Nicht immer lässt sich der Entstehungskontext eines Bildes recherchieren. Wie sollte man dann verfahren?

Starke: Da gilt es, den Einzelfall zu betrachten. Vielleicht kann man auf ein anderes »sicheres« Bild ausweichen? Es ist zu beobachten, dass einige sehr starke Bilder mit ikonischer Qualität so häufig in wechselnden Kontexten genutzt wurden, dass die Entstehungsbedingungen immer stärker in den Hintergrund getreten sind, obwohl bis heute umstritten ist, wie »authentisch« oder inszeniert ein bestimmtes Bild ist. Da denke ich beispielsweise an The Falling Soldier von Robert Capa, das in keiner Darstellung des Spanischen Bürgerkrieges fehlen darf. Vielleicht sind diese Bilder auch so bekannt und erfolgreich geworden, weil sie für die Kamera durchdacht waren und mehr als einen Augenblick kondensieren können.

Ein ethischer Umgang mit Bildern kann also auch bedeuten, populäre oder besonders beeindruckende Fotografien nicht zu zeigen – aufgrund des Motivs selbst oder weil wir einfach zu wenig über dessen Entstehung wissen oder weil Raum oder Zeit für eine differenzierte Erläuterung nicht ausreichen. Ein Einwand gegen eine solche Bildpraxis würde sicherlich lauten, dass das Leid der Opfer in Vergessenheit geraten kann, wenn man es nicht mehr zeigt?

Starke: Es klingt paradox, aber es kann falsch sein, Bilder nicht zu zeigen oder auch sie zu zeigen! Annette hat ja schon von jenen Fotos gesprochen, die von den Betrachter*innen nicht vergessen werden können. Aber auch die in extremen Situationen abgebildeten Menschen wollen selbst darüber entscheiden, ob und wie sie als Opfer dargestellt werden. Es gibt KZ-Überlebende, die sich entschieden haben – aus welchen Gründen auch immer –, Berlin, 1936: Das Foto von Herbert Sonnenfeld zeigt jugendliche Emigranten im Zug von Berlin nach Marseille. diesen Teil ihrer Biografie zu verschweigen. Wollten diese Menschen sich selbst überlebensgroß an eine Wand tapeziert wiederfinden? Vermutlich nicht.

Bartlitz: Als wir den Workshop vor zwei Jahren am ZZF veranstaltet haben, hat mich danach ein Kollege gefragt: »Habt ihr heute die Internet-Polizei gegründet?« Nein, darum geht es keineswegs. Es geht um unsere Verantwortung, wie wir Geschichte schreiben und präsentieren. Das müssen wir, wie Sandra gesagt hat, im Einzelfall entscheiden.

»Internet-Polizei« ist ein gutes Stichwort. Der einleitend angesprochene Vorfall bei Magnum hat gezeigt: Auch auf die Verschlagwortung ist zu achten. Hier wird häufig, in Anlehnung an die Praxis von Archiven, mit den zeitgenössischen Begriffen gearbeitet. Einerseits werden auf diese Weise diskriminierende Zuschreibungen reproduziert, andererseits erschweren bis verhindern neu erdachte und dem historischen Kontext enthobene Begriffe die Suche. Welche Möglichkeiten gibt es, diesem Dilemma zu entkommen?

Mueller-Stahl: Einfach ist es nicht, möglich aber schon. Das Problem der Verschlagwortung liegt ja häufig weniger im unmittelbaren Begriff selbst als vielmehr in der Verallgemeinerung, die er dem Bild auferlegt. In der Darstellung von Minderheiten ist das besonders offensichtlich. Der Ausdruck »Roma« etwa gibt als Schlagwort einem Bild eine Lesart vor, die es selbst nicht einlösen kann. Ganz gleich, wer oder was auf ihm zu sehen ist. Durch das Label »Roma« muss das Bild als Repräsentant einer ganzen Gruppe herhalten. Es gerinnt so unvermeidlich zum Klischee. Die gleiche Dynamik kann auch durch Bildunterschriften entstehen. Nur sind diese zumeist länger und transparenter. Das Schlagwort hingegen ist verdeckt. Es tritt schließlich weniger im Bild selbst in Erscheinung als im Suchpfad der*s Betrachter*in. Gerade dadurch wird es aber wirkungsvoll. Ein spannender Versuch, dem entgegenzutreten, ist das RomArchive. Es ist nicht nur eine Ansammlung künstlerischer und historischer Zeugnisse, die die kulturelle Vielfalt der Sinti und Roma abbilden, ohne je einen Anspruch auf Fotowand in der Dauerausstellung »Alltag in der DDR« im Museum in der Kulturbrauerei Vollständigkeit zu formulieren. Die Bilder sind jeweils eingebettet in Hintergründe und Erläuterungen. So ist ein eigenes Netzwerk entstanden, voller Schlagwörter und Querverweise, das der Gefahr einer visuellen Essentialisierung umfassend entgegentritt.

Bartlitz: Das Archiv ist ein sehr gutes Beispiel! Die Verantwortlichen haben sich bei der Gestaltung der Website gefragt: Wie kann eine Verschlagwortung aussehen, die diskriminierende Inhalte nicht einfach reproduziert, sondern reflektiert? Ist es zum Beispiel möglich, eine Verschlagwortung nach ästhetischen Kriterien zu gestalten? Sollte es technische Hürden für Nutzer*innen geben, die den Gebrauch von Bildern regulieren? Eignen sich versteckte Tags, um diskriminierende Inhalte zu kennzeichnen? Eine Kontextualisierung von Bildern, die auch in der URL aufgenommen wird, sowie die Übersetzung von Bildinhalten in Texte und nicht nur in Schlagworte sind zum Beispiel zwei Maßnahmen, die sie auf der Seite umgesetzt haben.

Mit den sozialen Medien kommt nun eine weitere Dimension ins Spiel. Welche Veränderungen bringt das in Hinsicht auf die Bildethik mit sich?

Bartlitz: Vor allem wächst die verbreitete Bildmenge rasant, und wir stehen dem als Historiker*innen noch ziemlich ratlos gegenüber. In den sozialen Medien werden Fotos auch gezielt zur Beeinflussung genutzt, um mentale Stereotype, Vorurteile oder Weltverschwörungsphantasien zu personifizieren und so visuell zu konkretisieren. Wenn solche Bilder dann erst einmal im Netz kursieren, werden sie oft aus dem Publikationszusammenhang herausgelöst. Das gilt für ihre Verbreitung wie auch für ihre Deutung.

Du deutest eine Möglichkeit an, die vor zehn Jahren so noch nicht existierte: Heute kann jede*r auf seinem Smartphone mit Hilfe einer App Bilder bearbeiten und damit auch verfälschen.

Bartlitz: Manipulationen und Täuschungen gibt es, seitdem es die Fotografie gibt. Die neue Technik macht es nur einfacher. Und diese Bilder verbreiten sich heute durch das Netz auch viel schneller. Gerade über die sozialen Medien werden Fotos 100.000-fach geteilt und kommentiert, verändert und in neue Kontexte gestellt. Da sollten wir uns als Historiker*innen bei der Förderung von Bildkompetenz noch viel stärker engagieren, gerade bei der Ausbildung an den Universitäten.

Das ist ein wichtiges Plädoyer! Sandra und Robert, Ihr habt abschließend einen Wunsch frei: Wie sollte sich die Bilderwelt zu Euren Forschungsthemen ändern?

Mueller-Stahl: Ich beschäftige mich mit der Weimarer Republik, und hier scheint mir eine Verzerrung der Repräsentationen und der Wahrnehmungen entstanden zu sein, die sich in den Bildern nicht nur widerspiegelt, sondern ganz massiv durch sie bedingt ist. Visuell wird die Weimarer Republik nämlich oftmals gleichgesetzt mit Berlin, mit der schillernden Großstadt, Neon-Licht und Nachtleben, Kneipen und Kunst, der modernen Architektur und vielleicht noch der grassierenden Armut. Daneben steht dann die breite Ikonografie der Politik, sei es der staatsmännischen oder der politischen Bewegungen. Im Einzelnen haben diese Bilder alle ihren Wert und ihre Berechtigung. Zusammen verdichten sie sich aber schnell zu einer Vorstellung von der Weimarer Republik als »Tanz auf dem Vulkan«. Dabei gerät in Vergessenheit, dass damals, wie Martin Geyer einmal gesagt hat, »Kleinstädte, Misthaufen und provinzieller Mief« mindestens ebenso wichtig waren. Diese Facette ist aber weit weniger abgebildet. Dabei würde gerade das Profane und Unspektakuläre unser Bild der Zeit entschieden bereichern.

Starke: Ähnliches kann man auch in DDR-Ausstellungen erleben. Beliebte Motive sind mit unmittelbaren DDR-Narrativen eindeutig verknüpft. Ich denke an verfallene Altbauten, Warteschlangen vor Geschäften und staatliche Propaganda im Straßenbild sowie organisierte Großdemonstrationen. Das ist eine zu verkürzte und zu einfache Darstellung. Auch ist Schwarz-Weiß-Fotografie einfacher zu integrieren in die Wahrnehmung der vermeintlich grauen DDR als Ort allgemeiner Tristesse. Ein Beispiel: Als ich 2012 im Museum in der Kulturbrauerei arbeitete, erhielt ich die Aufgabe, Vorschläge für eine Fotowand zum DDR-Alltag zu erarbeiten. Mir war dabei wichtig, nicht die bereits bekannten Fotograf*innen und die üblichen Motive an die Wand zu bringen. Was ich stattdessen unterbringen wollte, waren Bilder, die neue Fragen aufwerfen und auch Unterschiede zu unserem heutigen Leben thematisieren können. Multiperspektivität ist den Besucher*innen von Museen zumutbar, würde ich sagen. Die privaten Fotos aus meiner Forschung könnten viel dazu beitragen, werden aber relativ selten in größeren Zusammenhängen wie Ausstellungen verwendet.

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Interview: Bildethik - Zum Umgang mit historischen Fotografien mit Christine Bartlitz, Robert Mueller-Stahl, Sandra Starke und Annette Vowinckel

23.08.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über die Visual History, also die Forschung zum Umgang mit historischem Bildmaterial, sprechen in diesem Interview Christine Bartlitz, Robert Mueller-Stahl, Sandra Starke und Annette Vowinckel. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 

Filmrolle
Foto via pexels

Im Sommer 2020 entschied Magnum Photos, als diskriminierend erachtete Fotografien aus der Datenbank der Bildagentur zu entfernen und diese einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Ausschlaggebend dafür war die Kritik an einer Bildserie aus dem Jahr 1989. Die Fotos des bekannten Fotojournalisten David Alan Harvey zeigen thailändische Sexarbeiterinnen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme waren einige der abgebildeten Frauen noch minderjährig, was auch der Verschlagwortung der Bilder zu entnehmen war. Schließlich wurde der Fotograf generell von Magnum suspendiert, als öffentlich wurde, dass mehrere Frauen ihn sexueller Übergriffe beschuldigten. Christine, kurz bevor dieser Fall Schlagzeilen machte, habt ihr auf unserem Online-Portal »Visual History« ein neues Themendossier zur Bildethik veröffentlicht, dem nun regelmäßig weitere Texte hinzugefügt werden. Wie seid ihr auf das Thema gekommen?

Bartlitz: Es gab eine Anfrage an die Online-Redaktionen des ZZF. Eine Kollegin, Sarah Dellmann, erkundigte sich, ob wir für unsere tägliche Arbeit eigentlich schriftlich fixierte Richtlinien hätten, wie wir mit Bildmaterial umgehen, das diskriminierende oder abwertende Einstellungen zum Ausdruck bringt oder Persönlichkeitsrechte missachtet. Nein, so etwas hatten wir nicht. Bei der anschließenden Diskussion darüber ist uns klar geworden, dass wir zwar immer sehr genau abwägen, wie wir mit solchen Bildern umgehen, aber der Austausch darüber nur selten die Redaktionsräume verlässt. Und genau das wollten wir mit dem am ZZF veranstalteten Workshop 2019 und dem im letzten Jahr veröffentlichten Themendossier »Bildethik – Zum Umgang mit Bildern im Internet« auf Visual History ändern.

Damit habt ihr ja durchaus Neuland betreten. Annette, in der medialen Öffentlichkeit wird seit einigen Jahren intensiv über diskriminierende Sprache debattiert, aber bisher kaum über eine vergleichbare Wirkung von Fotografien. Auch in der Forschung scheint der ethische Umgang mit Bildern bisher nur selten ein Thema zu sein. Warum ist das so?

Vowinckel: Bilder werden weniger ernst genommen als Worte.

Bartlitz: Ja, viele Historiker*innen kennen sich auch einfach nicht mit Bildern aus. Sie nutzen Fotografien nicht als Quellen oder Forschungsgegenstand, sondern rein illustrativ. »Welches Bild kommt auf das Cover meines Buches?«, ist dann die wichtigste Frage.

Vowinckel: In der akademischen Welt haben Bilder lange eine untergeordnete Rolle gespielt: Sie sind der »bloße Schein«, darunter liegt (vermeintlich?) eine Wahrheit, die nur sprachlich fassbar ist. Es braucht schon eine gewisse Sensibilisierung für die Idee, dass ein Bild auch ein Argument sein kann, dass es Einstellungen und Wahrnehmungen prägt und sogar diskriminieren kann. Ich glaube, dass diese Sensibilität in einer Zeit, in der Identität zunehmend öffentliche Diskurse prägt, deutlich zunehmen wird. Da ist es sinnvoll, sich mit qualifizierten Beiträgen einzumischen – manchmal vielleicht auch mit mäßigenden Worten.

Eine solch illustrativ-dekorative Nutzung, wie Christine sie kritisiert, lässt sich auch auf vielen Websites beobachten. Im Vorwort für das neue Dossier betont ihr deshalb, dass ihr auch einen Austausch über den Umgang mit historischem Bildmaterial in Online-Umgebungen anregen möchtet. Was kennzeichnet denn bisher diesen Umgang?

Vowinckel: Ich beobachte, dass der Umgang mit Bildern im Netz von einer Mischung aus Unwissenheit, Unsicherheit und manchmal Gedankenlosigkeit geprägt ist. Unwissenheit herrscht oft bezüglich der Urheber- und Persönlichkeitsrechte. Wer sich bewusst macht, dass man beide schützen sollte, wird leicht verunsichert. Darf ich ein Foto, das ich bei einem Straßenfest gemacht habe, ins Netz stellen? Für welche Zwecke darf ich ein bei Wikimedia Commons eingestelltes Bild weiterverwenden? Was gibt es überhaupt für Lizenzen? Was passiert bei einem möglicherweise unbeabsichtigten Verstoß gegen geltende Spielregeln? Parallel beobachte ich, dass gedankenlos Bilder gepostet oder als Illustration verwendet werden, ohne dass vorab überlegt wird, welche Folgen dies zum Beispiel für die abgebildeten Personen haben könnte oder unter welchen Bedingungen das Bild aufgenommen wurde. Unser Schwerpunkt ist ein Versuch, ein Auseinanderdriften beider Herangehensweisen abzumildern und anhand von Beispielen zu zeigen, was es zu bedenken gilt und welche Lösungen sinnvoll sein können.

Und was genau gibt es zu bedenken? Welche Aspekte sollten Historikerinnen und Historiker zum Beispiel bei der Auswahl von Fotografien für eine Publikation oder eine Ausstellung beachten?

Bartlitz: Zuallererst sollte ich als Historikerin Verantwortung übernehmen für die Präsentation dieses Bildes: Was weiß ich über den Entstehungskontext, über die Fotograf*in, zu den fotografierten Personen sowie zur Distribution und Verwendung? Was war die Intention des Fotografen, welche Machtverhältnisse liegen dem Bild zugrunde? Diese Informationen – soweit ich sie recherchieren kann – sollte ich im besten Fall in der Bildunterschrift mit veröffentlichen. Außerdem geht es auch um Persönlichkeitsrechte. Viele Menschen, deren Fotos zu Ikonen geworden sind, haben dafür nie einen Cent bekommen, meistens sind sie nicht einmal gefragt worden. Dabei ist das »Recht am eigenen Bild« in Deutschland besonders streng geregelt. Wer nicht als »Person der Zeitgeschichte« oder als Teil einer größeren Gruppe auf einem veröffentlichten Foto zu sehen ist, kann dagegen gerichtlich vorgehen.

Vowinckel: Ich möchte noch auf eine andere Dimension hinweisen: Der Beutelsbacher Konsens von 1976 besagt unter anderem, dass man Menschen mit den Dingen, mit denen man sie konfrontiert – seien es Texte, Bilder oder Filme –, nicht überwältigen soll. Wenn ich also Fotos von einem Massaker zeige, muss ich im Kopf behalten, dass ein Betrachter oder eine Betrachterin das Gezeigte möglicherweise seelisch nicht verarbeiten kann. Das gilt besonders für Kinder, die ja mit ihren Smartphones oder Tablets auch im Netz unterwegs sind. Das gilt aber auch für viele Erwachsene, die möglicherweise eigene Gewalterfahrungen mitbringen oder besonders sensibel auf visuelle Medien reagieren. Es braucht also ein gewisses Maß an Empathie gerade bei den eher illustrativen Bildern, und bei Bildern, die als Argumente oder Quellen verwendet werden, vielleicht einen Hinweis im Vorfeld.

Da sprichst Du ein wichtiges Thema an, Annette. Großformatige Bilder, die grausame Verbrechen zeigen, werden ja auch nicht selten in Ausstellungen zur Geschichte der Shoah gezeigt. Sie lassen die Besucher*innen vor Betroffenheit innehalten und erschauern. Obwohl, wie Du sagst, eine solche »Überwältigungspädagogik« heute kritisch gesehen wird , ist dieser Effekt doch manchmal sicherlich auch intendiert?

Starke: Sicherlich ist dieser Effekt mit einkalkuliert. Auf eine emotionalisierende Wirkung können Ausstellungsmacher*innen kaum verzichten. Tatsächlich aber werden Gewaltdarstellungen heute immer öfter in Ausstellungen mit Warnhinweisen versehen und »versteckt«, so dass Besucher*innen selbst entscheiden können, ob sie das Bild zu diesem Zeitpunkt sehen möchten.

Bartlitz: Letztlich müssen wir die Balance halten zwischen dem Generieren von Aufmerksamkeit und Emotionalität auf der einen Seite und der ethischen Dimension auf der anderen Seite. Es braucht vielfach Bilder, um den Schrecken erfassen zu können. Die Verantwortung liegt dann bei uns als Historiker*innen, Kurator*innen etc., die Menschen durch die Präsentation nicht zu überwältigen, sondern ihnen die Chance zu geben, nachzuvollziehen, wie diese Aufnahmen entstanden sind. Dabei sollten wir uns fragen, ob die visuelle Dokumentation tatsächlich der Aufklärung dient oder ob sie die Diskriminierung und eine Position der Schwäche fortschreibt.

Starke: Der Entstehungskontext wird tatsächlich nur selten problematisiert. Relativ häufig findet sich noch die Praxis, etwa Opfer der Shoah als lebensgroße Figuren zu zeigen, um eine emotionale Identifizierung mit ihnen zu ermöglichen. Da die Fotos aber fast alle aus den Kameras der Täter stammen und somit deren Blick reproduzieren, sehen ich und viele andere Forscher*innen auch diese Darstellung kritisch.

Vielleicht können wir eure Gedankengänge anhand eines Beispiels noch anschaulicher machen. Worauf würdet ihr denn achten, wenn ihr Fotografien zusammenstellen müsstet für eine Ausstellung, die sich dem Holocaust widmet?

Starke: Immer wieder sehe ich Fotos von hochrangigen Nationalsozialisten als Entscheidungsträger, die den Massenmord, sozusagen vom Schreibtisch aus, anleiteten. Ein solcher Eindruck sollte nicht unbedingt entstehen. Viele »normale« Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen mitgemacht und waren aktiv beteiligt. Auch die technische Überlegenheit der Waffen wie der V2-Rakete ist ein Märchen, das ich nicht mehr hören will. Die Dauerausstellung in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora hat das gut gelöst. Dort wird nicht nur von den unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge unter Tage berichtet, auch werden Dokumente und Fotos von den zahllosen Fehlstarts der Rakete gezeigt, um den Mythos ihrer Effizienz zu brechen.

Bartlitz: Sandra hat es ja eben schon gesagt: Es gibt fast nur Fotos vom Holocaust, die von den Tätern gemacht worden sind. Das würde ich thematisieren. Kurator*innen haben vorgeschlagen, diese Bilder der SS-Fotografen aus den Konzentrationslagern nur klein, in der Originalgröße, auszustellen und den Kontext ihrer Entstehung genau zu beschreiben. Außerdem lassen sich solche Bilder auch brechen, zum Beispiel indem ich die Perspektive der Häftlinge zeichnerisch darstelle: Wo stand der Fotograf, wie hat er die Aufnahme in Szene gesetzt? Wichtig ist auch, dass es Gegenbilder gibt. Die Menschen sollten nicht nur als abgemagerte KZ-Häftlinge gezeigt werden, sondern als individuelle Persönlichkeiten aus der Zeit vor der Verfolgung und Ermordung mit ihren Freund*innen, Kindern, Familien.

Vowinckel: Ich schließe mich Sandra und Christine an. Eines der beeindruckendsten Bilder von Holocaust-Überlebenden ist eines, auf dem vier junge Männer sehr direkt, zum Teil fast aggressiv, zum Teil mit einem Anflug von Lächeln in die Kamera blicken. Obwohl die Männer extrem abgemagert sind, entspricht das Foto überhaupt nicht den vielen Bildern, auf denen wir passive und (vermeintlich) willenlose Opfer sehen.

Ein visuelles Qualitätskriterium ist für mich immer das Irritationspotenzial. Zeigt das Bild das, was wir schon im Kopf haben und bestätigt sehen wollen? Oder eröffnet es neue Perspektiven, unterbricht es Routinen, provoziert es vielleicht auch?

Mueller-Stahl: Eine solche Multiperspektivität scheint mir ganz wichtig. Und ich denke, sie lässt sich auch abseits so eindrücklicher, in der Überlieferung aber doch fast singulärer Bilder herstellen, wie Du, Annette, sie ansprichst. Ich stimme Christine ganz zu, dass im weitesten Sinne Selbstbildnisse der Verfolgten einen wichtigen Teil dazu beitragen können. Das mag irritieren, denn in den privaten Bildern des jüdischen Lebens vor dem Holocaust wird natürlich meistens ein Ideal des guten Lebens entworfen, auch dann, wenn Anfeindung und Ausschluss schon allgegenwärtig waren. Emigration und Flucht etwa werden fotografisch fast immer als Reise gerahmt. Gerade das aber macht sie so spannend. Über die Bilder lassen sich Fragen nach Erzählungs- und Handlungsmacht ganz neu stellen. Im Kontrast zu den Aufnahmen des Schreckens verharmlosen und relativieren sie nichts, sondern zeigen die Reichweite des Holocaust erst wirklich auf.

Starke: Ja, die Entstehung eines Fotos sollte immer mit betrachtet werden. Oft sind Bilder beispielsweise von einem ungleichen Machtverhältnis von Fotograf*in und Fotografierten geprägt. Viele sind unter Zwang entstanden. Wünschenswert ist für uns als Wissenschaftler*innen deshalb, allgemein das Bewusstsein zu wecken dafür, dass Fotos eben keine einfachen Abbilder der Realität sind. Sie sind eigenständig als Quellen und sollten deshalb sehr genau betrachtet werden.

Mueller-Stahl: Ja, sonst versteht man sie teils auch gar nicht oder interpretiert sie falsch. Die Aufnahmen von Herbert Sonnenfeld sind ein Beispiel dafür, wie wichtig der Entstehungskontext ist. Er wurde in den 1930er-Jahren zu einem der wichtigsten Fotografen jüdischen Lebens im nationalsozialistischen Berlin. Dabei war er sehr darauf bedacht, besonders Momente gemeinschaftlichen Lebens einzufangen. Feste, Sportveranstaltungen, auch mal ein Picknick im Park. Verfolgung und Ausschluss oder Leid sind in den Berliner Bildern hingegen kaum zu finden. Und doch bilden diese den Hintergrund, vor dem die Fotografien entstanden und auf die sie rekurrieren. Lässt man dies außen vor, verlieren die Aufnahmen völlig ihre Bedeutung. Buchenwald, Mitte Mai 1945: jugendliche Häftlinge vier Wochen nach der Befreiung des Lagers durch die US-Armee

Das Motiv ist also entscheidend, aber auch dessen Entstehung und Distribution. Hier geraten der Fotograf oder die Fotografin bzw. deren Auftraggeber*in in den Blick. Annette, du hast dich intensiv mit den »Agenten der Bilder« beschäftigt. Wo ist da Vorsicht oder zumindest mehr Sensibilität geboten?

Vowinckel: Ebenso wie die Verfasser*innen von Texten leben die Urheber*innen von Bildern nicht in einem luftleeren Raum. Sie haben eine Vorgeschichte und oft eine Agenda. Wenn ich im Auftrag des Bundespresseamts die Kanzlerin fotografiere, wird dabei kein Bild an die Öffentlichkeit gelangen, auf dem sie besonders unvorteilhaft aussieht. Wenn ich für eine Hilfsorganisation unterwegs bin, werde ich Not und Elend zeigen, um die Notwendigkeit meiner Tätigkeit zu begründen. Wir sollten deshalb immer darauf achten, wer ein Bild unter welchen Bedingungen und mit welchem Auftrag gemacht und wer es für welchen Zweck ausgewählt hat. Das zu wissen ist schön, reicht aber oft noch nicht für eine einfache Interpretation. Ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert die Lage sein kann, sind die Fotos von Paparazzi in der Boulevardpresse. Sie sind das Ergebnis eines Eingriffs in die Privatsphäre von Menschen, die sich dagegen möglicherweise deshalb kaum wehren können, weil sie »Personen der Zeitgeschichte« sind und Öffentlichkeit in Kauf nehmen müssen. Rechtlich können sie zwar gegen Hausfriedensbruch oder Nötigung vorgehen, nicht aber gegen das Bild als Artefakt. Allerdings sind gerade Karrieren von Prominenten auch davon abhängig, dass diese Art von Interesse überhaupt erst entsteht, und die, die sich über die Praxis von Paparazzi beschweren, sind Teil ihrer Kundschaft, wenn sie Boulevardzeitungen kaufen. Es ist und bleibt kompliziert, und unsere Aufgabe ist es, genau das zum Thema zu machen. Ein ganz praktischer Einwand: Nicht immer lässt sich der Entstehungskontext eines Bildes recherchieren. Wie sollte man dann verfahren?

Starke: Da gilt es, den Einzelfall zu betrachten. Vielleicht kann man auf ein anderes »sicheres« Bild ausweichen? Es ist zu beobachten, dass einige sehr starke Bilder mit ikonischer Qualität so häufig in wechselnden Kontexten genutzt wurden, dass die Entstehungsbedingungen immer stärker in den Hintergrund getreten sind, obwohl bis heute umstritten ist, wie »authentisch« oder inszeniert ein bestimmtes Bild ist. Da denke ich beispielsweise an The Falling Soldier von Robert Capa, das in keiner Darstellung des Spanischen Bürgerkrieges fehlen darf. Vielleicht sind diese Bilder auch so bekannt und erfolgreich geworden, weil sie für die Kamera durchdacht waren und mehr als einen Augenblick kondensieren können.

Ein ethischer Umgang mit Bildern kann also auch bedeuten, populäre oder besonders beeindruckende Fotografien nicht zu zeigen – aufgrund des Motivs selbst oder weil wir einfach zu wenig über dessen Entstehung wissen oder weil Raum oder Zeit für eine differenzierte Erläuterung nicht ausreichen. Ein Einwand gegen eine solche Bildpraxis würde sicherlich lauten, dass das Leid der Opfer in Vergessenheit geraten kann, wenn man es nicht mehr zeigt?

Starke: Es klingt paradox, aber es kann falsch sein, Bilder nicht zu zeigen oder auch sie zu zeigen! Annette hat ja schon von jenen Fotos gesprochen, die von den Betrachter*innen nicht vergessen werden können. Aber auch die in extremen Situationen abgebildeten Menschen wollen selbst darüber entscheiden, ob und wie sie als Opfer dargestellt werden. Es gibt KZ-Überlebende, die sich entschieden haben – aus welchen Gründen auch immer –, Berlin, 1936: Das Foto von Herbert Sonnenfeld zeigt jugendliche Emigranten im Zug von Berlin nach Marseille. diesen Teil ihrer Biografie zu verschweigen. Wollten diese Menschen sich selbst überlebensgroß an eine Wand tapeziert wiederfinden? Vermutlich nicht.

Bartlitz: Als wir den Workshop vor zwei Jahren am ZZF veranstaltet haben, hat mich danach ein Kollege gefragt: »Habt ihr heute die Internet-Polizei gegründet?« Nein, darum geht es keineswegs. Es geht um unsere Verantwortung, wie wir Geschichte schreiben und präsentieren. Das müssen wir, wie Sandra gesagt hat, im Einzelfall entscheiden.

»Internet-Polizei« ist ein gutes Stichwort. Der einleitend angesprochene Vorfall bei Magnum hat gezeigt: Auch auf die Verschlagwortung ist zu achten. Hier wird häufig, in Anlehnung an die Praxis von Archiven, mit den zeitgenössischen Begriffen gearbeitet. Einerseits werden auf diese Weise diskriminierende Zuschreibungen reproduziert, andererseits erschweren bis verhindern neu erdachte und dem historischen Kontext enthobene Begriffe die Suche. Welche Möglichkeiten gibt es, diesem Dilemma zu entkommen?

Mueller-Stahl: Einfach ist es nicht, möglich aber schon. Das Problem der Verschlagwortung liegt ja häufig weniger im unmittelbaren Begriff selbst als vielmehr in der Verallgemeinerung, die er dem Bild auferlegt. In der Darstellung von Minderheiten ist das besonders offensichtlich. Der Ausdruck »Roma« etwa gibt als Schlagwort einem Bild eine Lesart vor, die es selbst nicht einlösen kann. Ganz gleich, wer oder was auf ihm zu sehen ist. Durch das Label »Roma« muss das Bild als Repräsentant einer ganzen Gruppe herhalten. Es gerinnt so unvermeidlich zum Klischee. Die gleiche Dynamik kann auch durch Bildunterschriften entstehen. Nur sind diese zumeist länger und transparenter. Das Schlagwort hingegen ist verdeckt. Es tritt schließlich weniger im Bild selbst in Erscheinung als im Suchpfad der*s Betrachter*in. Gerade dadurch wird es aber wirkungsvoll. Ein spannender Versuch, dem entgegenzutreten, ist das RomArchive. Es ist nicht nur eine Ansammlung künstlerischer und historischer Zeugnisse, die die kulturelle Vielfalt der Sinti und Roma abbilden, ohne je einen Anspruch auf Fotowand in der Dauerausstellung »Alltag in der DDR« im Museum in der Kulturbrauerei Vollständigkeit zu formulieren. Die Bilder sind jeweils eingebettet in Hintergründe und Erläuterungen. So ist ein eigenes Netzwerk entstanden, voller Schlagwörter und Querverweise, das der Gefahr einer visuellen Essentialisierung umfassend entgegentritt.

Bartlitz: Das Archiv ist ein sehr gutes Beispiel! Die Verantwortlichen haben sich bei der Gestaltung der Website gefragt: Wie kann eine Verschlagwortung aussehen, die diskriminierende Inhalte nicht einfach reproduziert, sondern reflektiert? Ist es zum Beispiel möglich, eine Verschlagwortung nach ästhetischen Kriterien zu gestalten? Sollte es technische Hürden für Nutzer*innen geben, die den Gebrauch von Bildern regulieren? Eignen sich versteckte Tags, um diskriminierende Inhalte zu kennzeichnen? Eine Kontextualisierung von Bildern, die auch in der URL aufgenommen wird, sowie die Übersetzung von Bildinhalten in Texte und nicht nur in Schlagworte sind zum Beispiel zwei Maßnahmen, die sie auf der Seite umgesetzt haben.

Mit den sozialen Medien kommt nun eine weitere Dimension ins Spiel. Welche Veränderungen bringt das in Hinsicht auf die Bildethik mit sich?

Bartlitz: Vor allem wächst die verbreitete Bildmenge rasant, und wir stehen dem als Historiker*innen noch ziemlich ratlos gegenüber. In den sozialen Medien werden Fotos auch gezielt zur Beeinflussung genutzt, um mentale Stereotype, Vorurteile oder Weltverschwörungsphantasien zu personifizieren und so visuell zu konkretisieren. Wenn solche Bilder dann erst einmal im Netz kursieren, werden sie oft aus dem Publikationszusammenhang herausgelöst. Das gilt für ihre Verbreitung wie auch für ihre Deutung.

Du deutest eine Möglichkeit an, die vor zehn Jahren so noch nicht existierte: Heute kann jede*r auf seinem Smartphone mit Hilfe einer App Bilder bearbeiten und damit auch verfälschen.

Bartlitz: Manipulationen und Täuschungen gibt es, seitdem es die Fotografie gibt. Die neue Technik macht es nur einfacher. Und diese Bilder verbreiten sich heute durch das Netz auch viel schneller. Gerade über die sozialen Medien werden Fotos 100.000-fach geteilt und kommentiert, verändert und in neue Kontexte gestellt. Da sollten wir uns als Historiker*innen bei der Förderung von Bildkompetenz noch viel stärker engagieren, gerade bei der Ausbildung an den Universitäten.

Das ist ein wichtiges Plädoyer! Sandra und Robert, Ihr habt abschließend einen Wunsch frei: Wie sollte sich die Bilderwelt zu Euren Forschungsthemen ändern?

Mueller-Stahl: Ich beschäftige mich mit der Weimarer Republik, und hier scheint mir eine Verzerrung der Repräsentationen und der Wahrnehmungen entstanden zu sein, die sich in den Bildern nicht nur widerspiegelt, sondern ganz massiv durch sie bedingt ist. Visuell wird die Weimarer Republik nämlich oftmals gleichgesetzt mit Berlin, mit der schillernden Großstadt, Neon-Licht und Nachtleben, Kneipen und Kunst, der modernen Architektur und vielleicht noch der grassierenden Armut. Daneben steht dann die breite Ikonografie der Politik, sei es der staatsmännischen oder der politischen Bewegungen. Im Einzelnen haben diese Bilder alle ihren Wert und ihre Berechtigung. Zusammen verdichten sie sich aber schnell zu einer Vorstellung von der Weimarer Republik als »Tanz auf dem Vulkan«. Dabei gerät in Vergessenheit, dass damals, wie Martin Geyer einmal gesagt hat, »Kleinstädte, Misthaufen und provinzieller Mief« mindestens ebenso wichtig waren. Diese Facette ist aber weit weniger abgebildet. Dabei würde gerade das Profane und Unspektakuläre unser Bild der Zeit entschieden bereichern.

Starke: Ähnliches kann man auch in DDR-Ausstellungen erleben. Beliebte Motive sind mit unmittelbaren DDR-Narrativen eindeutig verknüpft. Ich denke an verfallene Altbauten, Warteschlangen vor Geschäften und staatliche Propaganda im Straßenbild sowie organisierte Großdemonstrationen. Das ist eine zu verkürzte und zu einfache Darstellung. Auch ist Schwarz-Weiß-Fotografie einfacher zu integrieren in die Wahrnehmung der vermeintlich grauen DDR als Ort allgemeiner Tristesse. Ein Beispiel: Als ich 2012 im Museum in der Kulturbrauerei arbeitete, erhielt ich die Aufgabe, Vorschläge für eine Fotowand zum DDR-Alltag zu erarbeiten. Mir war dabei wichtig, nicht die bereits bekannten Fotograf*innen und die üblichen Motive an die Wand zu bringen. Was ich stattdessen unterbringen wollte, waren Bilder, die neue Fragen aufwerfen und auch Unterschiede zu unserem heutigen Leben thematisieren können. Multiperspektivität ist den Besucher*innen von Museen zumutbar, würde ich sagen. Die privaten Fotos aus meiner Forschung könnten viel dazu beitragen, werden aber relativ selten in größeren Zusammenhängen wie Ausstellungen verwendet.

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