Interview: Epidemien und deren Bekämpfung in historischer Perspektive mit Jutta Braun und Winfried Süß

23.07.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über Epidemien, deren Bekämpfung und die Gesundheitssysteme in der DDR und Bundesrepublik sprechen in diesem Interview Jutta Braun und Winfried Süß. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 


Bild von Tara Winstead auf Pexels 

Seit März 2020 prägt die Corona-Pandemie unser aller Leben. Da das ZZF die Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart versteht, würden wir mit euch gern über den historischen Kontext sprechen. Winfried und Jutta, Ihr habt beide zur Geschichte der Gesundheitspolitik und zu medikalen Kulturen geforscht. Beginnen wir mit einem großen Schritt zurück in die Geschichte. Denn es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass ein Virus sich über die ganze Welt ausbreitet. Im 19. Jahrhundert forderte die Cholera unzählige Opfer, im 20. Jahrhundert unter anderem die sogenannte Spanische Grippe. Welche Maßnahmen wurden damals ergriffen?

Süß: In der Vormoderne standen beim Umgang mit Seuchen unterschiedliche Wissensformen miteinander im Wettstreit: die Medizin, die Religion und auf Beobachtung basierendes Alltagswissen. So wussten schon die Venezianer, dass Infektionskrankheiten sich gerne entlang der Handelsrouten verbreiten. Als probate Mittel, den Seuchen zu begegnen, galten vorbeugende Quarantäne, Mobilitätsbeschränkungen, die Abschließung gegenüber Fremden und die Isolation der Kranken. Seit Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich dann mit der Bakteriologie ein naturwissenschaftliches Paradigma durch, das erstmals wirksame Strategien bereitstellte gegen eine Reihe der »alten« Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus, Diphtherie und Pest. Dazu zählten in erster Linie Verfahren zur Identifikation krankheitserregender Mikroorganismen, Antitoxine und Impfstoffe, später auch Antibiotika.

Und welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen lassen sich den großen Pandemie der Vergangenheit zurechnen?

Süß: Die Effekte der Spanischen Grippe sind in der Forschung umstritten, weil sie eng mit den Folgen des Ersten Weltkriegs verflochten sind. Bei den Cholera-Epidemien hat man schon früh den Zusammenhang zwischen (Trinkwasser-)Hygiene, Wohnverhältnissen und Gesundheitsschutz erkannt. Im Verlauf von Jahrzehnten entwickelten sich daraus Reformprogramme, die die Lebensverhältnisse in den Städten durch sanitäre Maßnahmen verbesserten. Die immense »soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod«, mit Reinhard Spree gesprochen, wurde dadurch eingeebnet, aber keineswegs beseitigt.

Nun fanden die ganzen »berühmten« Epidemien schon Erwähnung – Pest und Cholera, die Spanische Grippe. Das 20. und frühe 21. Jahrhundert erlebte aber noch weitere Epidemien: die Asiatische Grippe, die Hongkong Grippe, SARS … Wie kommt es, dass diese in Deutschland keine vergleichbare Wirkung hatten bzw. keine vergleichbare Reaktion ausgelöst haben?

Süß: Interessant ist, dass viele dieser Infektionswellen tatsächlich schon durch die zeitgenössischen Aufmerksamkeitsraster fielen. Sie haben deshalb auch keinen Eingang in unser kollektives Gedächtnis gefunden. Ein Grund dafür war ihre Einbettung in die Konfliktkonstellation des Kalten Krieges. Seuchen galten als Angelegenheit der »anderen«: stigmatisierter sozialer (Rand-)Gruppen, der »Dritten Welt« oder des hygienisch defizitären kommunistischen Machtbereichs. Das war natürlich Unfug! Allein die sogenannte »Mao-Grippe« rief 1968/69 in Westdeutschland eine Übersterblichkeit von etwa 40.000 Toten hervor, ohne dass viel darüber berichtet wurde. Diese mediale Verschattung von Infektionskrankheiten endete mit der SARSPandemie 2002/03. Obwohl hier nur wenige Tote zu beklagen waren, zeigte sie plötzlich, wie rasant sich eine neue Virusmutation in einer global vernetzten Welt verbreiten kann.

Wenn die letzten Pandemie kaum das öffentliche Interesse weckten, warum empfinden wir die Situation jetzt also so bedrohlich?

Süß: Mit zwei Millionen Erkrankungen und mehr als 60.000 Toten allein in Deutschland ist die COVID-Pandemie die tödlichste Seuche seit über hundert Jahren. Plötzlich sind auch die Menschen in den reichen Gesellschaften unmittelbar mit der Bedrohung ihrer leiblichen Existenz konfrontiert, obwohl sie den Tod durch seine Exterritorialisierung und Hospitalisierung weitgehend aus ihrem Alltag verbannt hatten. COVID-19 dementiert das Gefühl gesundheitlicher Sicherheit bis ins hohe Lebensalter, das konstitutiv für moderne wohlfahrtsstaatliche Gesellschaften ist. In einer Pandemie ist potenziell jeder gefährdet. Das konkrete Risiko für den Einzelnen ist schwer einzuschätzen. Damit führt uns die Corona-Pandemie vor Augen, wie verwundbar wir sind und das nicht nur im metaphorischen Sinn. Sie demonstriert, wie voraussetzungsreich und verletzlich unsere Lebensführung ist. Kontaktreduzierung und mechanische Schutzmaßnahmen vor Tröpfcheninfektionen waren bislang die einzigen Mittel, um der Krankheit zu begegnen. Damit trifft die Pandemie unsere Lebensweise, die beruflich und privat auf Konvivialität angelegt ist. Unsere Familienmodelle benötigen die öffentlich bereitgestellten Care-Dienstleistungen. Unsere Wirtschaft basiert auf grenzüberschreitender Arbeitsteilung. Hinzu kommt: Seit einem Jahr leben wir in einer Art fluidem Ausnahmezustand. Gesundheitsschutz und Grundrechtsschutz konkurrieren miteinander. Entscheidungen müssen auf unsicheren Grundlagen getroffen werden. Und die Zukunftshorizonte verändern sich permanent. Das ist neu für Gesellschaften, zu deren Selbstverständnis die Berechenbarkeit von Risiken, die Planbarkeit von Zukunft und ein hohes Maß an Kontrolle über die eigenen Lebensentwürfe gehören. Insofern eröffnet der Start des Impfprogramms nicht nur ein Versprechen auf die Wiedergewinnung gesundheitlicher Sicherheit, sondern auch die Aussicht auf eine Rückkehr zur Normalität in einer neuerlich – wie Malte Thießen es genannt hat – »immunisierten Gesellschaft«, in der die Menschen ihr Leben wieder ein gutes Stück mehr selbst gestalten können.

Im Frühjahr 2020 ahnten wohl nur einige Expert*innen, über welch langen Zeitraum die Pandemie unser Leben prägen wird. Und noch immer wirken politische Akteur*innen immer wieder hilflos. Hat der Staat aus vergangenen Epidemien nicht gelernt? War man vorbereitet auf das, was im letzten Jahr eintrat?

Süß: Nach meinem Eindruck kaum. Dabei hat es an sehr konkreten Warnungen vor neuen Virusmutationen nicht gefehlt, etwa seitens der Weltgesundheitsorganisation und des Robert-Koch-Instituts. Ein Punkt, den nach meinem Eindruck kaum jemand im Blick hatte, war die extreme Empfindlichkeit transnationaler Produktionsketten für medizinische Güter.

Hätten Historiker*innen wichtige Ratschläge geben können?

Süß: Mit Handlungsvorschlägen, die sich auf historische Analogien stützen, sind Historiker*innen ja zu Recht zurückhaltend. Aber aus Studien über die Spanische Grippe wissen wir schon, dass dort, wo die Verantwortlichen früh und durchgreifend soziale Kontakte reduziert haben, die Mortalität niedrig blieb. Der Umgang vieler Länder mit COVID-19 im Frühjahr 2020 erinnerte dann doch eher an Thomas Manns »Tod in Venedig«: Verleugnen, Verschleiern, Verdrängen und viel gesundheitspolitisches Symbolhandeln. Nur einige der asiatischen Staaten wie Südkorea und Japan hatten sich frühere regionale Epidemien genauer angeschaut und ihre Schlüsse daraus gezogen. Die sind in der ersten Corona-Welle auch ganz gut zurechtgekommen, allerdings mit einer Wucht der Eingriffe in die Lebensverhältnisse ihrer Bürger, die in den Gesellschaften des Westens kaum konsensfähig wären.

Das wäre wohl auch aufgrund unseres historisch begründeten Selbstverständnisses nicht umsetzbar gewesen.

Süß: Ja, das deutsche Gesundheitssystem ist durch eine doppelte Diktaturerfahrung geprägt. Es ist deswegen auch in Sachen Public Health ziemlich schlecht aufgestellt. Dem öffentlichen Gesundheitsdienst fehlten gerade am Beginn der Krise Personal, moderne Ausrüstung und Kompetenzen. Viele Aufgaben, die in anderen Ländern durch einen zentralen öffentlichen Gesundheitsdienst organisiert werden, übernehmen bei uns niedergelassene Mediziner*innen. Das hat durchaus Nachteile, wenn es etwa um die Ansprache von Zielgruppen geht, die von sich aus eine gewisse Scheu haben, einen Arzt aufzusuchen. Auch bei der Organisation der Impfungen erleben wir gerade, dass ein Gesundheitssystem mit vielen Entscheidungsebenen und Akteuren, die alle eigene Interessen haben, nicht besonders effizient ist.

Welche Rolle spielt der Föderalismus hier?

Süß: Der in Deutschland sehr ausgeprägte Gesundheitsföderalismus hat ambivalente Effekte. Auf der einen Seite ist er mitverantwortlich für ein Zuständigkeitswirrwarr, das einheitliche Maßnahmen erschwert und die Bürger*innen verunsichert. Auf der anderen Seite liegt hier eine Ursache für unsere im internationalen Vergleich sehr gute stationäre Versorgung. Politiker*innen, die Krankenhäuser schließen, werden oft nicht wiedergewählt. Im Ergebnis hatte Deutschland im Frühjahr 2020 deshalb etwa viermal so viele Intensivbetten zur Verfügung wie Italien. Das war ein wichtiges Sicherheitspolster.

Du hast es schon angedeutet: Gegen eine globale Pandemie helfen nationale Antworten nur bedingt. Gab es europäische Pläne zur Pandemiebekämpfung?

Süß: Meines Wissens kaum, obwohl die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten eine lange Tradition hat. Sie fällt heute aber eher in die Zuständigkeit der Weltgesundheitsorganisation. Deren Empfehlungen sind allerdings nicht bindend. Die Europäische Kommission hat in der Gesundheitspolitik nur wenig Kompetenzen. Daher haben wir gerade zu Beginn der Covid-Pandemie viele Alleingänge und Egoismen gesehen – mit zum Teil verheerenden Konsequenzen. Dass bei uns die Intensivstationen leer blieben, während in Madrid, Paris und Bergamo Menschen auf den Krankenhausfluren elend starben, war eine Schande für das europäische Projekt, die der Idee eines Europa, das nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Solidargemeinschaft ist, einen schweren Schlag versetzt hat. Inzwischen werden immerhin die Produktionsund Lieferketten für die Impfstoffe europäisch koordiniert und demnächst wohl auch die Bekämpfung der ökonomischen Folgen der Pandemie.

Braun: Ich denke auch, dass die Globalisierung der Humanmedizin durch die Pandemie in ein neues Licht gerückt wird. Bislang profitierten auch deutsche Kliniken davon, dass Deutschland zu den wichtigsten Destinationen eines »Medizintourismus« für eine zahlungskräftige Klientel gehörte. Eine internationale Elite konnte und kann sich eine bessere, schnellere oder überhaupt eine bestimmte Form von Therapie im Ausland leisten. Heute streiten jedoch Staaten oder Staatengemeinschaften um Kontingente, erst von Masken, jetzt von Impfstoffen. Das relativiert die Individualisierung auf diesem Markt.

Ja, die ersten Impfstoffe sind nun zugelassen. Das bringt mich zu der Frage: Seit wann gibt es Impfungen?

Süß: Schon lange! Seit mehr als 200 Jahren schützt uns ein aus ungefährlichen Kuhpocken gewonnener Impfstoff gegen die Pockenkrankheit.

Impfungen wurden lange Zeit als wichtiger medizinischer Fortschritt erachtet. Heute scheint es jedoch, als würden immer mehr Menschen Impfungen pauschal ablehnen. Oder täuscht dieser Eindruck? Welche historischen Vorläufer haben die sogenannten Impfgegner?

Süß: Tatsächlich war die Impfskepsis früher größer als heute, obwohl die Pocken eine verunstaltende und extrem tödliche Virusinfektion sind. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Anfangs spielte die Wahrnehmung von Medikalisierungsprozessen als obrigkeitliche Interventionen eine gewisse Rolle, aber auch die durchaus berechtigte Sorge vor Nebenwirkungen und begrenzten Effekten der Impfung. Kant, der kein Impfgegner war, hat einmal gesagt, bei der Pockenimpfung wage man »sein Leben aufs Ungewisse«. Heute ist die Impfgegnerschaft oft in ein Ideenkonglomerat eingebunden, das der modernen Welt skeptisch oder gar feindlich gegenübersteht, obwohl moderne Impfstoffe viel sicherer sind als zu Kants Zeiten.

Springen wir mal etwas mehr in Richtung Gegenwart. Winfried hat schon angedeutet, dass der Kalte Krieg einen wichtigen historischen Kontext bildet, wenn wir die Gegenwart besser verstehen wollen. Jutta, welche Rolle spielte der Systemkonflikt für die Entstehung und Entwicklung der Gesundheitssysteme in DDR und Bundesrepublik?

Braun: Für das Gesundheitssystem der DDR war weniger der Systemkonflikt, sondern vielmehr die Tradition der »Sozialhygiene« maßgeblich. Deren Grundidee war es, die sozialen Ursachen von Krankheit zu ermitteln und zu bekämpfen. Hiermit konnte man auf den berühmten Ahnherrn Rudolf Virchow verweisen, den Begründer der modernen Sozialmedizin, der an der Charité lehrte und nicht nur gegen den Typhus vorging, sondern auch Seite an Seite mit Revolutionären für soziale Gerechtigkeit stritt. Er sah Ärzte als die »natürlichen Anwälte der Armen«. Und das Ideal der DDR war es schon, einen gerechten Zugang für alle Bürger*innen zu medizinischen Leistungen zu gewähren. Während dann jedoch die Bundesrepublik ihren Sozialstaat immer effektiver auch im Gesundheitssystem ausbaute, führte die DDR durch die Hintertür zusehends Privilegien für regime- oder produktionsnahe Personengruppen ein – womit die sozialistische Utopie, auch aufgrund der ungerechten Verwaltung des Mangels, ausgehebelt wurde. Die Gesundheitsversorgung, das hatte der letzte Gesundheitsminister der DDR erkannt, ist ein »Lebensnerv« der Gesellschaft und umso mehr bedauerte er das häufige Versagen des zweiten deutschen Staates auf diesem Gebiet.

Gesundheitspolitik als Sozialpolitik – welche Rolle spielt die soziale Frage heute in der Pandemie?

Braun: Wenn wir heute dem Virologen Christian Drosten von der Charité zuhören, steht er natürlich eher in der Tradition des zweiten großen Mediziners in seinem Hause: von Robert Koch, der die Bedeutung von Erregern bei der Ansteckung durch seine Forschung profiliert hat. Dieser Kontagionismus ist häufig als konkurrierende Denkschule zur Sozialhygiene aufgefasst worden. Tatsächlich hängen beide Krankheitsfaktoren aber in der Praxis häufig eng miteinander zusammen: Ein Schutz vor Ansteckung ist unter verelendeten, beengten Lebensverhältnissen besonders schwer möglich. Die aktuelle Pandemie hat allerdings auch deutlich vor Augen geführt, dass unter den Bedingungen moderner Mobilität keine wirksamen sozialen Barrieren mehr errichtet werden können, die eine Elite oder eine reiche Industrienation konsequent vor dem Seuchengeschehen schützen können.

Wenn Barrieren nicht helfen, kann ein Gemeinwesen zu verpflichtenden Schutzmaßnahmen greifen. Jutta, in der DDR gab es teilweise eine Impfpflicht. Wie kam es dazu und wie wurde das umgesetzt?

Braun: Der »Impfkalender« in der DDR war sehr umfangreich, hier waren bis zu 20 Pflichtimpfungen vorgesehen. Tatsächlich gelang es dem SED-Staat, auf diesem Wege früher und erfolgreicher als die Bundesrepublik bestimmte Seuchen nahezu ausrotten, wie etwa die Kinderlähmung. Doch gab es auch hier nicht wirklich einen »Impfzwang«. Studien zeigen, dass im Ernstfall, also bei Weigerung, keine harschen Repressionen erfolgten. Allerdings wurde Wohlverhalten goutiert. Ein masernfreier Kreis war ein politisch wohlgefälliger Kreis. Das mag uns in Zeiten, in denen das Maskentragen – wie ich meine zu Recht – aus gesundheitspolitischen Gründen von den Bürger*innen verlangt wird, gar nicht mehr allzu fremd erscheinen.

Würdest Du sagen, dass autoritär verfasste Staaten generell eher zu verpflichtenden Regelungen tendieren?

Braun: Prävention und Prophylaxe waren Kerngedanken der sozialistischen Utopie, bereits in der Sowjetunion. Das hatte zunächst einmal einen durchaus aufklärerischen Impetus. Dass der Traum von der »Sozialhygiene« nicht umfassend verwirklicht wurde, lag auch an Systemzwängen: So kam es aufgrund der veralteten Anlagen der DDR-Industrie immer wieder zu Ausbrüchen der Ruhr, besonders schlimm Anfang der 1960er-Jahre. Das wahre Ausmaß dieser Epidemie wurde jedoch, zum Nachteil der Öffentlichkeit, vertuscht, da die DDR solcherlei Desaster im Vergleich mit dem Westen nicht eingestehen wollte – im Systemkampf lag hier stets die Grenze des Aufklärungswillens der Obrigkeit.

Du sagst, die DDR konnte einige Seuchen schneller loswerden. Lässt sich denn sagen, was sich in der Vergangenheit generell als effektiver erwiesen hat? Eine Impfpflicht oder Aufklärungskampagnen?

Braun: Das kann man schwer gegeneinander ausspielen. Aufklärungskampagnen sind jedoch vor allem bei Zivilisationskrankheiten zentral, gegen das Rauchen oder eine ungesunde Ernährung zum Beispiel. Die DDR hat sich allerdings generell auf dem Gebiet der Aufklärung – mit dem Dresden, 1988: Das Hygiene-Museum der DDR zeigt anlässlich des Welt-AIDS-Tages die Sonderausstellung »Alles über AIDS«. Zu den Exponaten gehört auch ein überdimensionales Modell des AIDS-Virus. Arzt als »Lehrer des Volkes« – sehr engagiert, mit öffentlichen Vorträgen und Lehrfilmen. Ihre Gesundheitspolitik ist weniger an den Epidemien verzweifelt, sondern vielmehr an solchen Krankheiten, die sich mit den autoritären Methoden hin zu einer »heilen, sozialistischen« Gesellschaft eben nicht kurieren ließen, wie etwa Krebs. Auch hinsichtlich der Arbeitsmedizin war der Arbeiterstaat DDR inkonsequent: es wurde viel in Forschung investiert, mehr als im Westen, aber die volkseigene Industrie scheiterte dann bei der Umsetzung von adäquaten Arbeitsschutzmaßnahmen.

Süß: Gegen einen Impfzwang spricht sicher auch, dass er in einer liberalen Gesellschaft kaum durchzusetzen ist und Ressourcen bindet, die an anderen Stellen, etwa bei der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung besser platziert werden können.

Eine weitere aktuelle Kontroverse dreht sich um mögliche »Benefits«: Die einen wollen, dass geimpften Menschen Privilegien zugestanden werden. Andere warnen, dass dies zu einer »immunologischen Diskriminierung« führen und soziale Ungleichheiten verstärken würde. Allerdings sind solche Vorteile nicht neu, oder?

Süß: Richtig, so etwas gibt es ja schon: Für bestimmte Berufe können Arbeitgeber Gesundheitszeugnisse verlangen. In der Gastronomie etwa hat das durchaus einen Sinn. Unangemessen fände ich eine Lockerung von coronabedingten Beschränkungen für Geimpfte. Solange nicht alle Bürger*innen gleiche Zugangschancen haben, bleibt die Impfung ein Privileg, auf das keine weiteren Privilegien aufgesattelt werden sollten.

Historiker*innen sind keine Propheten. Aber vielleicht können wir ja trotzdem ein wenig in die Glaskugel blicken: Was wird bleiben von Corona?

Süß: Schwer zu sagen. Momentan deutet sich eher an, was nicht bleiben wird, etwa im sehr verwundbaren Kulturbereich. Viel wird davon abhängen, wie schnell es gelingt, die Pandemie in den Griff zu bekommen und wie nachhaltig diese Maßnahmen wirken. Einerseits sollte man die Resilienz moderner Gesellschaften nicht unterschätzen. Dass wir gut ein Jahr nach den ersten Krankheitsfällen mehrere zugelassene Impfstoffe haben, finde ich beeindruckend. Andererseits ist die Kombination eines schweren Krankheitsverlaufs mit zum Teil gravierenden Langzeitfolgen, einer hohen Übertragbarkeit, raschen Mutationen und der großen Umweltstabilität des Virus schon eine echte Herausforderung für die Gesundheitspolitik. Venedig hatte in seiner Geschichte mit mehr als mehr als 20 Pestausbrüchen zu kämpfen. Nach dem letzten, der 1630 ein Drittel der Einwohner das Leben kostete, schied die »Serenissima« endgültig aus dem Kreis der ökonomischen und politischen Großmächte aus. Geblieben sind zwei Kirchen, die an den »Schwarzen Tod« erinnern und »Redentore«, das schönste Fest im Jahreskreis der Stadt.

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Interview: Epidemien und deren Bekämpfung in historischer Perspektive mit Jutta Braun und Winfried Süß

23.07.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über Epidemien, deren Bekämpfung und die Gesundheitssysteme in der DDR und Bundesrepublik sprechen in diesem Interview Jutta Braun und Winfried Süß. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 


Bild von Tara Winstead auf Pexels 

Seit März 2020 prägt die Corona-Pandemie unser aller Leben. Da das ZZF die Zeitgeschichte als Problemgeschichte der Gegenwart versteht, würden wir mit euch gern über den historischen Kontext sprechen. Winfried und Jutta, Ihr habt beide zur Geschichte der Gesundheitspolitik und zu medikalen Kulturen geforscht. Beginnen wir mit einem großen Schritt zurück in die Geschichte. Denn es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass ein Virus sich über die ganze Welt ausbreitet. Im 19. Jahrhundert forderte die Cholera unzählige Opfer, im 20. Jahrhundert unter anderem die sogenannte Spanische Grippe. Welche Maßnahmen wurden damals ergriffen?

Süß: In der Vormoderne standen beim Umgang mit Seuchen unterschiedliche Wissensformen miteinander im Wettstreit: die Medizin, die Religion und auf Beobachtung basierendes Alltagswissen. So wussten schon die Venezianer, dass Infektionskrankheiten sich gerne entlang der Handelsrouten verbreiten. Als probate Mittel, den Seuchen zu begegnen, galten vorbeugende Quarantäne, Mobilitätsbeschränkungen, die Abschließung gegenüber Fremden und die Isolation der Kranken. Seit Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich dann mit der Bakteriologie ein naturwissenschaftliches Paradigma durch, das erstmals wirksame Strategien bereitstellte gegen eine Reihe der »alten« Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus, Diphtherie und Pest. Dazu zählten in erster Linie Verfahren zur Identifikation krankheitserregender Mikroorganismen, Antitoxine und Impfstoffe, später auch Antibiotika.

Und welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen lassen sich den großen Pandemie der Vergangenheit zurechnen?

Süß: Die Effekte der Spanischen Grippe sind in der Forschung umstritten, weil sie eng mit den Folgen des Ersten Weltkriegs verflochten sind. Bei den Cholera-Epidemien hat man schon früh den Zusammenhang zwischen (Trinkwasser-)Hygiene, Wohnverhältnissen und Gesundheitsschutz erkannt. Im Verlauf von Jahrzehnten entwickelten sich daraus Reformprogramme, die die Lebensverhältnisse in den Städten durch sanitäre Maßnahmen verbesserten. Die immense »soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod«, mit Reinhard Spree gesprochen, wurde dadurch eingeebnet, aber keineswegs beseitigt.

Nun fanden die ganzen »berühmten« Epidemien schon Erwähnung – Pest und Cholera, die Spanische Grippe. Das 20. und frühe 21. Jahrhundert erlebte aber noch weitere Epidemien: die Asiatische Grippe, die Hongkong Grippe, SARS … Wie kommt es, dass diese in Deutschland keine vergleichbare Wirkung hatten bzw. keine vergleichbare Reaktion ausgelöst haben?

Süß: Interessant ist, dass viele dieser Infektionswellen tatsächlich schon durch die zeitgenössischen Aufmerksamkeitsraster fielen. Sie haben deshalb auch keinen Eingang in unser kollektives Gedächtnis gefunden. Ein Grund dafür war ihre Einbettung in die Konfliktkonstellation des Kalten Krieges. Seuchen galten als Angelegenheit der »anderen«: stigmatisierter sozialer (Rand-)Gruppen, der »Dritten Welt« oder des hygienisch defizitären kommunistischen Machtbereichs. Das war natürlich Unfug! Allein die sogenannte »Mao-Grippe« rief 1968/69 in Westdeutschland eine Übersterblichkeit von etwa 40.000 Toten hervor, ohne dass viel darüber berichtet wurde. Diese mediale Verschattung von Infektionskrankheiten endete mit der SARSPandemie 2002/03. Obwohl hier nur wenige Tote zu beklagen waren, zeigte sie plötzlich, wie rasant sich eine neue Virusmutation in einer global vernetzten Welt verbreiten kann.

Wenn die letzten Pandemie kaum das öffentliche Interesse weckten, warum empfinden wir die Situation jetzt also so bedrohlich?

Süß: Mit zwei Millionen Erkrankungen und mehr als 60.000 Toten allein in Deutschland ist die COVID-Pandemie die tödlichste Seuche seit über hundert Jahren. Plötzlich sind auch die Menschen in den reichen Gesellschaften unmittelbar mit der Bedrohung ihrer leiblichen Existenz konfrontiert, obwohl sie den Tod durch seine Exterritorialisierung und Hospitalisierung weitgehend aus ihrem Alltag verbannt hatten. COVID-19 dementiert das Gefühl gesundheitlicher Sicherheit bis ins hohe Lebensalter, das konstitutiv für moderne wohlfahrtsstaatliche Gesellschaften ist. In einer Pandemie ist potenziell jeder gefährdet. Das konkrete Risiko für den Einzelnen ist schwer einzuschätzen. Damit führt uns die Corona-Pandemie vor Augen, wie verwundbar wir sind und das nicht nur im metaphorischen Sinn. Sie demonstriert, wie voraussetzungsreich und verletzlich unsere Lebensführung ist. Kontaktreduzierung und mechanische Schutzmaßnahmen vor Tröpfcheninfektionen waren bislang die einzigen Mittel, um der Krankheit zu begegnen. Damit trifft die Pandemie unsere Lebensweise, die beruflich und privat auf Konvivialität angelegt ist. Unsere Familienmodelle benötigen die öffentlich bereitgestellten Care-Dienstleistungen. Unsere Wirtschaft basiert auf grenzüberschreitender Arbeitsteilung. Hinzu kommt: Seit einem Jahr leben wir in einer Art fluidem Ausnahmezustand. Gesundheitsschutz und Grundrechtsschutz konkurrieren miteinander. Entscheidungen müssen auf unsicheren Grundlagen getroffen werden. Und die Zukunftshorizonte verändern sich permanent. Das ist neu für Gesellschaften, zu deren Selbstverständnis die Berechenbarkeit von Risiken, die Planbarkeit von Zukunft und ein hohes Maß an Kontrolle über die eigenen Lebensentwürfe gehören. Insofern eröffnet der Start des Impfprogramms nicht nur ein Versprechen auf die Wiedergewinnung gesundheitlicher Sicherheit, sondern auch die Aussicht auf eine Rückkehr zur Normalität in einer neuerlich – wie Malte Thießen es genannt hat – »immunisierten Gesellschaft«, in der die Menschen ihr Leben wieder ein gutes Stück mehr selbst gestalten können.

Im Frühjahr 2020 ahnten wohl nur einige Expert*innen, über welch langen Zeitraum die Pandemie unser Leben prägen wird. Und noch immer wirken politische Akteur*innen immer wieder hilflos. Hat der Staat aus vergangenen Epidemien nicht gelernt? War man vorbereitet auf das, was im letzten Jahr eintrat?

Süß: Nach meinem Eindruck kaum. Dabei hat es an sehr konkreten Warnungen vor neuen Virusmutationen nicht gefehlt, etwa seitens der Weltgesundheitsorganisation und des Robert-Koch-Instituts. Ein Punkt, den nach meinem Eindruck kaum jemand im Blick hatte, war die extreme Empfindlichkeit transnationaler Produktionsketten für medizinische Güter.

Hätten Historiker*innen wichtige Ratschläge geben können?

Süß: Mit Handlungsvorschlägen, die sich auf historische Analogien stützen, sind Historiker*innen ja zu Recht zurückhaltend. Aber aus Studien über die Spanische Grippe wissen wir schon, dass dort, wo die Verantwortlichen früh und durchgreifend soziale Kontakte reduziert haben, die Mortalität niedrig blieb. Der Umgang vieler Länder mit COVID-19 im Frühjahr 2020 erinnerte dann doch eher an Thomas Manns »Tod in Venedig«: Verleugnen, Verschleiern, Verdrängen und viel gesundheitspolitisches Symbolhandeln. Nur einige der asiatischen Staaten wie Südkorea und Japan hatten sich frühere regionale Epidemien genauer angeschaut und ihre Schlüsse daraus gezogen. Die sind in der ersten Corona-Welle auch ganz gut zurechtgekommen, allerdings mit einer Wucht der Eingriffe in die Lebensverhältnisse ihrer Bürger, die in den Gesellschaften des Westens kaum konsensfähig wären.

Das wäre wohl auch aufgrund unseres historisch begründeten Selbstverständnisses nicht umsetzbar gewesen.

Süß: Ja, das deutsche Gesundheitssystem ist durch eine doppelte Diktaturerfahrung geprägt. Es ist deswegen auch in Sachen Public Health ziemlich schlecht aufgestellt. Dem öffentlichen Gesundheitsdienst fehlten gerade am Beginn der Krise Personal, moderne Ausrüstung und Kompetenzen. Viele Aufgaben, die in anderen Ländern durch einen zentralen öffentlichen Gesundheitsdienst organisiert werden, übernehmen bei uns niedergelassene Mediziner*innen. Das hat durchaus Nachteile, wenn es etwa um die Ansprache von Zielgruppen geht, die von sich aus eine gewisse Scheu haben, einen Arzt aufzusuchen. Auch bei der Organisation der Impfungen erleben wir gerade, dass ein Gesundheitssystem mit vielen Entscheidungsebenen und Akteuren, die alle eigene Interessen haben, nicht besonders effizient ist.

Welche Rolle spielt der Föderalismus hier?

Süß: Der in Deutschland sehr ausgeprägte Gesundheitsföderalismus hat ambivalente Effekte. Auf der einen Seite ist er mitverantwortlich für ein Zuständigkeitswirrwarr, das einheitliche Maßnahmen erschwert und die Bürger*innen verunsichert. Auf der anderen Seite liegt hier eine Ursache für unsere im internationalen Vergleich sehr gute stationäre Versorgung. Politiker*innen, die Krankenhäuser schließen, werden oft nicht wiedergewählt. Im Ergebnis hatte Deutschland im Frühjahr 2020 deshalb etwa viermal so viele Intensivbetten zur Verfügung wie Italien. Das war ein wichtiges Sicherheitspolster.

Du hast es schon angedeutet: Gegen eine globale Pandemie helfen nationale Antworten nur bedingt. Gab es europäische Pläne zur Pandemiebekämpfung?

Süß: Meines Wissens kaum, obwohl die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten eine lange Tradition hat. Sie fällt heute aber eher in die Zuständigkeit der Weltgesundheitsorganisation. Deren Empfehlungen sind allerdings nicht bindend. Die Europäische Kommission hat in der Gesundheitspolitik nur wenig Kompetenzen. Daher haben wir gerade zu Beginn der Covid-Pandemie viele Alleingänge und Egoismen gesehen – mit zum Teil verheerenden Konsequenzen. Dass bei uns die Intensivstationen leer blieben, während in Madrid, Paris und Bergamo Menschen auf den Krankenhausfluren elend starben, war eine Schande für das europäische Projekt, die der Idee eines Europa, das nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Solidargemeinschaft ist, einen schweren Schlag versetzt hat. Inzwischen werden immerhin die Produktionsund Lieferketten für die Impfstoffe europäisch koordiniert und demnächst wohl auch die Bekämpfung der ökonomischen Folgen der Pandemie.

Braun: Ich denke auch, dass die Globalisierung der Humanmedizin durch die Pandemie in ein neues Licht gerückt wird. Bislang profitierten auch deutsche Kliniken davon, dass Deutschland zu den wichtigsten Destinationen eines »Medizintourismus« für eine zahlungskräftige Klientel gehörte. Eine internationale Elite konnte und kann sich eine bessere, schnellere oder überhaupt eine bestimmte Form von Therapie im Ausland leisten. Heute streiten jedoch Staaten oder Staatengemeinschaften um Kontingente, erst von Masken, jetzt von Impfstoffen. Das relativiert die Individualisierung auf diesem Markt.

Ja, die ersten Impfstoffe sind nun zugelassen. Das bringt mich zu der Frage: Seit wann gibt es Impfungen?

Süß: Schon lange! Seit mehr als 200 Jahren schützt uns ein aus ungefährlichen Kuhpocken gewonnener Impfstoff gegen die Pockenkrankheit.

Impfungen wurden lange Zeit als wichtiger medizinischer Fortschritt erachtet. Heute scheint es jedoch, als würden immer mehr Menschen Impfungen pauschal ablehnen. Oder täuscht dieser Eindruck? Welche historischen Vorläufer haben die sogenannten Impfgegner?

Süß: Tatsächlich war die Impfskepsis früher größer als heute, obwohl die Pocken eine verunstaltende und extrem tödliche Virusinfektion sind. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Anfangs spielte die Wahrnehmung von Medikalisierungsprozessen als obrigkeitliche Interventionen eine gewisse Rolle, aber auch die durchaus berechtigte Sorge vor Nebenwirkungen und begrenzten Effekten der Impfung. Kant, der kein Impfgegner war, hat einmal gesagt, bei der Pockenimpfung wage man »sein Leben aufs Ungewisse«. Heute ist die Impfgegnerschaft oft in ein Ideenkonglomerat eingebunden, das der modernen Welt skeptisch oder gar feindlich gegenübersteht, obwohl moderne Impfstoffe viel sicherer sind als zu Kants Zeiten.

Springen wir mal etwas mehr in Richtung Gegenwart. Winfried hat schon angedeutet, dass der Kalte Krieg einen wichtigen historischen Kontext bildet, wenn wir die Gegenwart besser verstehen wollen. Jutta, welche Rolle spielte der Systemkonflikt für die Entstehung und Entwicklung der Gesundheitssysteme in DDR und Bundesrepublik?

Braun: Für das Gesundheitssystem der DDR war weniger der Systemkonflikt, sondern vielmehr die Tradition der »Sozialhygiene« maßgeblich. Deren Grundidee war es, die sozialen Ursachen von Krankheit zu ermitteln und zu bekämpfen. Hiermit konnte man auf den berühmten Ahnherrn Rudolf Virchow verweisen, den Begründer der modernen Sozialmedizin, der an der Charité lehrte und nicht nur gegen den Typhus vorging, sondern auch Seite an Seite mit Revolutionären für soziale Gerechtigkeit stritt. Er sah Ärzte als die »natürlichen Anwälte der Armen«. Und das Ideal der DDR war es schon, einen gerechten Zugang für alle Bürger*innen zu medizinischen Leistungen zu gewähren. Während dann jedoch die Bundesrepublik ihren Sozialstaat immer effektiver auch im Gesundheitssystem ausbaute, führte die DDR durch die Hintertür zusehends Privilegien für regime- oder produktionsnahe Personengruppen ein – womit die sozialistische Utopie, auch aufgrund der ungerechten Verwaltung des Mangels, ausgehebelt wurde. Die Gesundheitsversorgung, das hatte der letzte Gesundheitsminister der DDR erkannt, ist ein »Lebensnerv« der Gesellschaft und umso mehr bedauerte er das häufige Versagen des zweiten deutschen Staates auf diesem Gebiet.

Gesundheitspolitik als Sozialpolitik – welche Rolle spielt die soziale Frage heute in der Pandemie?

Braun: Wenn wir heute dem Virologen Christian Drosten von der Charité zuhören, steht er natürlich eher in der Tradition des zweiten großen Mediziners in seinem Hause: von Robert Koch, der die Bedeutung von Erregern bei der Ansteckung durch seine Forschung profiliert hat. Dieser Kontagionismus ist häufig als konkurrierende Denkschule zur Sozialhygiene aufgefasst worden. Tatsächlich hängen beide Krankheitsfaktoren aber in der Praxis häufig eng miteinander zusammen: Ein Schutz vor Ansteckung ist unter verelendeten, beengten Lebensverhältnissen besonders schwer möglich. Die aktuelle Pandemie hat allerdings auch deutlich vor Augen geführt, dass unter den Bedingungen moderner Mobilität keine wirksamen sozialen Barrieren mehr errichtet werden können, die eine Elite oder eine reiche Industrienation konsequent vor dem Seuchengeschehen schützen können.

Wenn Barrieren nicht helfen, kann ein Gemeinwesen zu verpflichtenden Schutzmaßnahmen greifen. Jutta, in der DDR gab es teilweise eine Impfpflicht. Wie kam es dazu und wie wurde das umgesetzt?

Braun: Der »Impfkalender« in der DDR war sehr umfangreich, hier waren bis zu 20 Pflichtimpfungen vorgesehen. Tatsächlich gelang es dem SED-Staat, auf diesem Wege früher und erfolgreicher als die Bundesrepublik bestimmte Seuchen nahezu ausrotten, wie etwa die Kinderlähmung. Doch gab es auch hier nicht wirklich einen »Impfzwang«. Studien zeigen, dass im Ernstfall, also bei Weigerung, keine harschen Repressionen erfolgten. Allerdings wurde Wohlverhalten goutiert. Ein masernfreier Kreis war ein politisch wohlgefälliger Kreis. Das mag uns in Zeiten, in denen das Maskentragen – wie ich meine zu Recht – aus gesundheitspolitischen Gründen von den Bürger*innen verlangt wird, gar nicht mehr allzu fremd erscheinen.

Würdest Du sagen, dass autoritär verfasste Staaten generell eher zu verpflichtenden Regelungen tendieren?

Braun: Prävention und Prophylaxe waren Kerngedanken der sozialistischen Utopie, bereits in der Sowjetunion. Das hatte zunächst einmal einen durchaus aufklärerischen Impetus. Dass der Traum von der »Sozialhygiene« nicht umfassend verwirklicht wurde, lag auch an Systemzwängen: So kam es aufgrund der veralteten Anlagen der DDR-Industrie immer wieder zu Ausbrüchen der Ruhr, besonders schlimm Anfang der 1960er-Jahre. Das wahre Ausmaß dieser Epidemie wurde jedoch, zum Nachteil der Öffentlichkeit, vertuscht, da die DDR solcherlei Desaster im Vergleich mit dem Westen nicht eingestehen wollte – im Systemkampf lag hier stets die Grenze des Aufklärungswillens der Obrigkeit.

Du sagst, die DDR konnte einige Seuchen schneller loswerden. Lässt sich denn sagen, was sich in der Vergangenheit generell als effektiver erwiesen hat? Eine Impfpflicht oder Aufklärungskampagnen?

Braun: Das kann man schwer gegeneinander ausspielen. Aufklärungskampagnen sind jedoch vor allem bei Zivilisationskrankheiten zentral, gegen das Rauchen oder eine ungesunde Ernährung zum Beispiel. Die DDR hat sich allerdings generell auf dem Gebiet der Aufklärung – mit dem Dresden, 1988: Das Hygiene-Museum der DDR zeigt anlässlich des Welt-AIDS-Tages die Sonderausstellung »Alles über AIDS«. Zu den Exponaten gehört auch ein überdimensionales Modell des AIDS-Virus. Arzt als »Lehrer des Volkes« – sehr engagiert, mit öffentlichen Vorträgen und Lehrfilmen. Ihre Gesundheitspolitik ist weniger an den Epidemien verzweifelt, sondern vielmehr an solchen Krankheiten, die sich mit den autoritären Methoden hin zu einer »heilen, sozialistischen« Gesellschaft eben nicht kurieren ließen, wie etwa Krebs. Auch hinsichtlich der Arbeitsmedizin war der Arbeiterstaat DDR inkonsequent: es wurde viel in Forschung investiert, mehr als im Westen, aber die volkseigene Industrie scheiterte dann bei der Umsetzung von adäquaten Arbeitsschutzmaßnahmen.

Süß: Gegen einen Impfzwang spricht sicher auch, dass er in einer liberalen Gesellschaft kaum durchzusetzen ist und Ressourcen bindet, die an anderen Stellen, etwa bei der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung besser platziert werden können.

Eine weitere aktuelle Kontroverse dreht sich um mögliche »Benefits«: Die einen wollen, dass geimpften Menschen Privilegien zugestanden werden. Andere warnen, dass dies zu einer »immunologischen Diskriminierung« führen und soziale Ungleichheiten verstärken würde. Allerdings sind solche Vorteile nicht neu, oder?

Süß: Richtig, so etwas gibt es ja schon: Für bestimmte Berufe können Arbeitgeber Gesundheitszeugnisse verlangen. In der Gastronomie etwa hat das durchaus einen Sinn. Unangemessen fände ich eine Lockerung von coronabedingten Beschränkungen für Geimpfte. Solange nicht alle Bürger*innen gleiche Zugangschancen haben, bleibt die Impfung ein Privileg, auf das keine weiteren Privilegien aufgesattelt werden sollten.

Historiker*innen sind keine Propheten. Aber vielleicht können wir ja trotzdem ein wenig in die Glaskugel blicken: Was wird bleiben von Corona?

Süß: Schwer zu sagen. Momentan deutet sich eher an, was nicht bleiben wird, etwa im sehr verwundbaren Kulturbereich. Viel wird davon abhängen, wie schnell es gelingt, die Pandemie in den Griff zu bekommen und wie nachhaltig diese Maßnahmen wirken. Einerseits sollte man die Resilienz moderner Gesellschaften nicht unterschätzen. Dass wir gut ein Jahr nach den ersten Krankheitsfällen mehrere zugelassene Impfstoffe haben, finde ich beeindruckend. Andererseits ist die Kombination eines schweren Krankheitsverlaufs mit zum Teil gravierenden Langzeitfolgen, einer hohen Übertragbarkeit, raschen Mutationen und der großen Umweltstabilität des Virus schon eine echte Herausforderung für die Gesundheitspolitik. Venedig hatte in seiner Geschichte mit mehr als mehr als 20 Pestausbrüchen zu kämpfen. Nach dem letzten, der 1630 ein Drittel der Einwohner das Leben kostete, schied die »Serenissima« endgültig aus dem Kreis der ökonomischen und politischen Großmächte aus. Geblieben sind zwei Kirchen, die an den »Schwarzen Tod« erinnern und »Redentore«, das schönste Fest im Jahreskreis der Stadt.

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