Akten und Macht: Neue Studie erforscht Zentralarchive zwischen Demokratie und Diktatur

30.11.2022

Als Gedächtnisse einer Gesellschaft sind Archive in vieler Munde, als Orte und Objekte politischer Auseinandersetzung, Instrumentalisierung und Bedrängung hingegen weniger. Genau darüber hat Peter Ulrich Weiß nun eine materialreiche Studie vorgelegt. Am Beispiel des Reichsarchivs Potsdam und seiner Nachfolgeeinrichtungen Bundesarchiv und Deutsches Zentralarchiv der DDR untersucht der Potsdamer Historiker die Durchsetzung diktatorischer und demokratischer Herrschaftsverhältnisse vor und nach 1945 und fragt nach den Auswir-kungen, die sich für zentrale Archivbehörden und deren Personal ergaben.

Das Buch »Deutsche Zentralarchive in den Systemumbrüchen nach 1933 und 1945« ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Es leistet einen Beitrag zur Auseinandersetzung deutscher Behörden mit ihrer institutionellen Diktaturbelastung. Für die Zeit des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus belegt Peter Ulrich Weiß mit seiner Studie eine erhebliche Systemträgerschaft unter den Archivarinnen und Archivaren. Noch überraschender sind jedoch die vielen Funde von Haltungen und Verhaltensweisen, die in der Grauzone zwischen Mitmachen und Verweigern changierten. Liebe und Loyalität zu Beruf und Behörde erweisen sich dabei als gewichtige Faktoren, wenn es um das Mitmachen und Anpassen ging. Das Beharren auf Fachautonomie und Expertenwissen konnte aber auch dazu führen, ideologisch motivierte Einflussnahmen abzublocken. 

NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg, aber auch die Wirren der Nachkriegszeit bedeuteten für die Archive Beschränkung und Zerstörung – durch Tod, Verwüstungen, Aktenauslagerungen und -vernichtungen sowie infolge alliierter Beschlagnahmungen und eines langwierigen Rückgabeprozesses von Millionen Akten. „Es gab eine lange Auszeit. Für 20 bis 30 Jahre waren die Archivarbeit und die Archivnutzung massiv blockiert und behindert“, so Weiß. Aufschlussreich ist die institutionelle und (arbeits)biografische Ruhelosigkeit, die Peter Ulrich Weiß für die Entwicklung der Zentralarchive von der Weimarer Republik bis in die 1960er Jahre herausarbeitet. Diese sei geprägt von permanenten Struktur- und Personalveränderungen sowie Zuständigkeitsverschiebungen. „Anzahl und Vielfalt der strukturellen Umgestaltungen und Erwerbsbiografien widersprechen dem Narrativ einer mehr oder weniger ungebrochenen Kontinuität in Personal oder Archivbetrieb über Systeme bzw. Systemwechsel hinweg. Vielmehr erweisen sich Kontingenz, Unsicherheit, Wechselhaftigkeit und Offenheit der Situation als kennzeichnende Merkmale“, schreibt der Autor. Hinzu käme die Dauerbeschäftigung mit Notbetrieb, Provisorien und der nie versiegenden Flut von Massenakten. 

Für die Zeit nach 1945 bilden dann die deutsche Teilung und der Kalte Krieg die Bande, in der sich die deutsch-deutschen Archivkontakte langsam auseinander entwickelten und die Archivzugänge im jeweils anderen Deutschland zur (geschichts)politischen Verhandlungsmasse wurden. An ausgewählten Beispielen gelingt es Weiß, den vielfachen Entscheidungs-Irrsinn dazustellen, mit dem Anträge auf Akteneinsicht bewertet und beschieden wurden. Der Autor entfaltet ein groß angelegtes Panorama an Biografien, Orten und politischen Geschehnissen über mehrere Systeme hinweg und verbindet ihre Darstellung mit stadt-, fach- und gesellschaftsgeschichtlichen Erörterungen. Dank dieser Melange liegt eine dichte Archivgeschichte für das „Jahrhundert der Extreme“ vor, die Einsichten in ein bislang wenig erforschtes Feld bereithält.
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Dr. Peter Ulrich Weiß war bis Ende 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Danach wechselte er zur Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. 
Das Buch „Deutsche Zentralarchive in den Systemumbrüchen nach 1933 und 1945“ ist am 30. November 2022 im Wallstein Verlag erschienen als 30. Band in der ZZF-Schriftenreihe „Geschichte und Gesellschaft“.
 

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Akten und Macht: Neue Studie erforscht Zentralarchive zwischen Demokratie und Diktatur

30.11.2022

Als Gedächtnisse einer Gesellschaft sind Archive in vieler Munde, als Orte und Objekte politischer Auseinandersetzung, Instrumentalisierung und Bedrängung hingegen weniger. Genau darüber hat Peter Ulrich Weiß nun eine materialreiche Studie vorgelegt. Am Beispiel des Reichsarchivs Potsdam und seiner Nachfolgeeinrichtungen Bundesarchiv und Deutsches Zentralarchiv der DDR untersucht der Potsdamer Historiker die Durchsetzung diktatorischer und demokratischer Herrschaftsverhältnisse vor und nach 1945 und fragt nach den Auswir-kungen, die sich für zentrale Archivbehörden und deren Personal ergaben.

Das Buch »Deutsche Zentralarchive in den Systemumbrüchen nach 1933 und 1945« ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Es leistet einen Beitrag zur Auseinandersetzung deutscher Behörden mit ihrer institutionellen Diktaturbelastung. Für die Zeit des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus belegt Peter Ulrich Weiß mit seiner Studie eine erhebliche Systemträgerschaft unter den Archivarinnen und Archivaren. Noch überraschender sind jedoch die vielen Funde von Haltungen und Verhaltensweisen, die in der Grauzone zwischen Mitmachen und Verweigern changierten. Liebe und Loyalität zu Beruf und Behörde erweisen sich dabei als gewichtige Faktoren, wenn es um das Mitmachen und Anpassen ging. Das Beharren auf Fachautonomie und Expertenwissen konnte aber auch dazu führen, ideologisch motivierte Einflussnahmen abzublocken. 

NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg, aber auch die Wirren der Nachkriegszeit bedeuteten für die Archive Beschränkung und Zerstörung – durch Tod, Verwüstungen, Aktenauslagerungen und -vernichtungen sowie infolge alliierter Beschlagnahmungen und eines langwierigen Rückgabeprozesses von Millionen Akten. „Es gab eine lange Auszeit. Für 20 bis 30 Jahre waren die Archivarbeit und die Archivnutzung massiv blockiert und behindert“, so Weiß. Aufschlussreich ist die institutionelle und (arbeits)biografische Ruhelosigkeit, die Peter Ulrich Weiß für die Entwicklung der Zentralarchive von der Weimarer Republik bis in die 1960er Jahre herausarbeitet. Diese sei geprägt von permanenten Struktur- und Personalveränderungen sowie Zuständigkeitsverschiebungen. „Anzahl und Vielfalt der strukturellen Umgestaltungen und Erwerbsbiografien widersprechen dem Narrativ einer mehr oder weniger ungebrochenen Kontinuität in Personal oder Archivbetrieb über Systeme bzw. Systemwechsel hinweg. Vielmehr erweisen sich Kontingenz, Unsicherheit, Wechselhaftigkeit und Offenheit der Situation als kennzeichnende Merkmale“, schreibt der Autor. Hinzu käme die Dauerbeschäftigung mit Notbetrieb, Provisorien und der nie versiegenden Flut von Massenakten. 

Für die Zeit nach 1945 bilden dann die deutsche Teilung und der Kalte Krieg die Bande, in der sich die deutsch-deutschen Archivkontakte langsam auseinander entwickelten und die Archivzugänge im jeweils anderen Deutschland zur (geschichts)politischen Verhandlungsmasse wurden. An ausgewählten Beispielen gelingt es Weiß, den vielfachen Entscheidungs-Irrsinn dazustellen, mit dem Anträge auf Akteneinsicht bewertet und beschieden wurden. Der Autor entfaltet ein groß angelegtes Panorama an Biografien, Orten und politischen Geschehnissen über mehrere Systeme hinweg und verbindet ihre Darstellung mit stadt-, fach- und gesellschaftsgeschichtlichen Erörterungen. Dank dieser Melange liegt eine dichte Archivgeschichte für das „Jahrhundert der Extreme“ vor, die Einsichten in ein bislang wenig erforschtes Feld bereithält.
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Dr. Peter Ulrich Weiß war bis Ende 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Danach wechselte er zur Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur. 
Das Buch „Deutsche Zentralarchive in den Systemumbrüchen nach 1933 und 1945“ ist am 30. November 2022 im Wallstein Verlag erschienen als 30. Band in der ZZF-Schriftenreihe „Geschichte und Gesellschaft“.
 

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