Interview: Perspektiven auf die Geschichte des Kommunismus mit David Bebnowski, Ralf Hoffrogge und Mario Keßler

23.07.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über Perspektiven auf die Geschichte des Kommunismus sprechen in diesem Interview David Bebnowski, Ralf Hoffrogge und Mario Keßler. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 


Bild von Madison Inouye auf Pexels

 

Lieber Mario, lieber Ralf, lieber David, eure Forschungsprojekte verbindet, dass sie sich Menschen widmen, die mindestens einen Teil ihres Lebens ganz dem Engagement für ihre politische Überzeugung verschrieben haben – teils mit Auswirkungen auf die nächste und übernächste Generation. Auch viele Romane, die sich der Geschichte des Kommunismus in (auto-)biographischer Perspektive nähern, erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit: Eugen Ruges Bücher »Metropol« und »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol«, Robert Cohens »Exil der Frechen Frauen« oder Alexander Osangs »Das Leben der Elena Silber«. Was fasziniert uns an diesen Erzählungen?

Hoffrogge: Cohens Freche Frauen faszinieren, weil die Geschichte der KPD in der populären Erinnerung entweder verdammt, verschwiegen oder als heroisch-männliche Erzählung zelebriert wurde. Erst nach 1990 widmete sich die Forschung zaghaft der Sozial- und Alltagsgeschichte der Weimarer KPD, die Geschlechtergeschichte steckt immer noch in den Kinderschuhen. Cohens Porträt dreier Kommunistinnen im Exil stößt in diese Lücke – Literatur leistet, was die Forschung (noch) nicht geschafft hat.

Bebnowski: Ich kann gut an diese Gedanken zur Leistung der Literatur anschließen. Literatur hat immer eine poetische Dimension, in dem sie der Welt, in der wir leben, durch ihre Erzählungen Umrisse und Tiefe verleiht. Diese Dimensionen sind natürlich auch in Bezug auf Arbeitswelten enorm wichtig. Es gibt viele Anstrengungen, sozialistischer und kommunistischer Politik, die »kleinen Leute« zum Schreiben zu bringen. Durch diese Literatur von unten, aber auch die historischen Romane, wird das im weitesten Sinne proletarische Leben und Erleben zu einem Bestandteil kollektiver sozialer Sinnwelten.

Mario, Du gehst nun bald in den (Un-)Ruhestand. Seit Mitte der 1990er-Jahre hast Du den Weg des ZZF begleitet und mit geprägt. Deine Forschungen widmen sich seitdem zu weiten Teilen einer besonderen Facette der Geschichte des Kommunismus: dem Exil. Dabei beschäftigt Dich vor allem der Fortgang ins nicht-sozialistische Ausland. Kannst du kurz erläutern, was dafür charakteristisch war?

Keßler: Der Fortgang meiner Protagonisten und Protagonistinnen – ich habe auch über zwei wichtige Frauen geschrieben – ist keine freiwillige Entscheidung gewesen. Die Flucht aus Deutschland 1933 war für alle der von mir Porträtierten eine Frage auf Leben und Tod, und dies nicht nur, wenn sie Jüdinnen oder Juden waren, sondern auch wegen ihrer Verankerung in der Arbeiterbewegung. Denn die Zerschlagung der Arbeiterbewegung war die Voraussetzung der Vernichtung der Juden durch das Hitler-Regime.

Lässt sich in vergleichender Perspektive sagen, was ausschlaggebend dafür war, ob jemand in die Sowjetunion oder in ein nicht-sozialistisches Land emigrierte?

Keßler: Der Weg ins Exil war von Zufällen übersät. Wer wohin gelangte, hing von der Aufnahmebereitschaft der Fluchtländer, oft auch dem Mangel daran, und der Hilfsbereitschaft Einzelner ab. Die Sowjetunion nahm grundsätzlich nur, zudem sorgfältig »ausgesiebte« kommunistische Flüchtlinge auf. Auch die meisten westlichen Länder wollten weder Kommunisten, Sozialisten noch Juden ins Land lassen, und es bedurfte eines großen Drucks der dortigen Öffentlichkeit, um dies teilweise zu ändern. Die Tatsache zwingt zum Nachdenken, dass Diktaturen oder autoritäre Regime wie Kuba, die Dominikanische Republik und die Türkei sich hier großzügiger zeigten. 

Kannst Du für unsere Leserinnen und Leser kurz zusammenfassen, welchen Einfluss der Ort des Exils dann auf das Leben deutscher Kommunistinnen und Kommunisten nach 1945 hatte?

Keßler: Kommunistinnen und Kommunisten, aber auch Angehörige sozialdemokratischer Organisationen waren weit eher als »bürgerliche« Flüchtlinge bereit, in das Land zurückzukehren, aus dem sie hatten fliehen müssen und in dem Verwandte und Freunde ermordet worden waren. Sie wollten als Teil der Arbeiterbewegung zum Aufbau eines besseren Deutschland beitragen. Wie dies zu erreichen war, entzweite Sozialdemokraten und Kommunisten voneinander. Die Frage schuf aber auch unüberbrückbare Trennlinien zwischen Kommunisten, die Illusionen über das Stalinsche Entwicklungsmodell der DDR hatten, und solchen, die zweifelten, sich dann widersetzen und schließlich oft in den Westen ausweichen mussten. Dort waren antistalinistische Kommunisten aber gleichfalls nicht willkommen. Besonders deutlich wird dies am Fall der Spanienkämpfer: In der Bundesrepublik wurden sie lange ausgegrenzt und erhielten nur sehr niedrige Renten, obwohl sie im Spanienkrieg 1936–39 die Republik verteidigt hatten, wohingegen Wehrmachtsangehörige, die diese brutal beseitigen halfen, die volle Pension erhielten. In der DDR wurden Spanienkämpfer geehrt – so sie nicht einer der kommunistischen Oppositionsgruppen gegen Stalin angehört hatten. Falls dies herauskam, war es auch dort mit den Ehrungen vorbei.

Wirft man einen Blick in deine Biografie, stellt man fest: Nach dem Ende der DDR bist du selbst in die USA und nach Großbritannien gegangen. Auch heute verbringst du noch viel Zeit auf der anderen Seite des Atlantiks. Lässt sich da eine Verbindung ziehen zwischen deiner eigenen Biografie und deinem Forschungsinteresse?

Keßler: Natürlich denke ich auch an Verwandte, die den Nazi-Terror erleiden mussten, nicht oder knapp überlebten, aber vor allem wollte ich jenen Menschen Gestalt und Gesicht geben, die als Ketzer oder Grenzgänger des Kommunismus in der DDR totgeschwiegen, aber auch im Westen oft beschwiegen wurden. Sie sollen im Gedächtnis der Nachwelt fortleben, und dazu wollte und konnte ich einen Beitrag leisten. Dass ich in die USA gelangte, war einer von vielen Zufällen in meinem Leben, in dem ich an meinen Forschungsinteressen eisern festhielt. Dabei half mir auch mein Interesse an der angelsächsischen Populärkultur, mit der ich selbst in der DDR am Radio aufwachsen konnte – der Äther kannte keine Mauern.

Nun leben wir heute in einer völlig anderen Welt als Ruth Fischer oder Paul Merker. Worin denkst Du, kann trotzdem ein Erkenntnisgewinn liegen, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen?

Keßler: Die Erkenntnisse, die ich in meiner Forschungsarbeit gewann und die sich hoffentlich in meinen Büchern niederschlugen, lauten zusammengefasst: Am Beginn der Arbeiterbewegung stand der Kampf um soziale Gerechtigkeit in politischer Freiheit. Beide Komponenten zusammen machen den Inhalt von Demokratie aus. Ihre Formen sind klassen- und zeitgebunden, ihre Werte aber sind überzeitlich. Sie zu vermitteln, bleibt uns als Notwendigkeit aufgegeben.

Ralf, auch Du möchtest künftig verstärkt einen biographischen Ansatz verfolgen und auf diese Weise die Lebenswege von kommunistischen Frauen in den Blick nehmen. Welche neuen Erkenntnisse erhoffst Du Dir davon?

Hoffrogge: Erstmal will ich etwas Grundlagenforschung leisten – es wurde einiges geschrieben über Männerbilder in der KPD, und über die KPD-Frauenpolitik – also ihre Politik für Frauen. Aber bisher findet man die Frauen selbst nur in Romanen wie bei Cohen, oder in kurzen Einträgen biographischer Lexika. Die Frage, wer diese Frauen überhaupt waren, ist daher noch offen – waren es mehr Arbeiterinnen oder eher Angestellte? Wo politisierten Sie sich? Welche Themen waren ihnen wichtig? All das ist bisher nur in Bruchstücken erfasst.

Kannst Du schon sagen, ob sich eine spezifisch weibliche Erfahrung des Kommunismus ausmachen lässt und was sie kennzeichnet?

Hoffrogge: Frauen in der KPD teilten die Erfahrung mit Sozialdemokratinnen, dass sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Partei kämpfen mussten. Sie standen mit den Männern gegen eine Gesellschaft, in der Frauenrechte gerade erst erkämpft wurden – wie das 1919 erstmals ausgeübte Frauenwahlrecht. Gleichzeitig standen sie gegen die Männer in einer Partei, die von einem männlichen Arbeits- und Politikbegriff ausging, wo Streiks wichtiger waren als Hausfrauenproteste und Lebensmittelkrawalle. Dennoch war die KPD die erste deutsche Partei, die 1924 von einer Frau geführt wurde – Ruth Fischer.

Richtig! Wie kam es denn dazu? Und wie reagierten ihre Parteigenossen auf sie?

Keßler: Zwar stand auch Rosa Luxemburg die ersten 14 Tage nach der KPD-Gründung an der Parteispitze, doch wurde eine Entwicklung der KPD hin zum Linkssozialismus mit ihrer Ermordung noch nicht abgebrochen, wohl aber ihrer wichtigsten Denkerin beraubt. Ruth Fischer beschwor zwar Luxemburgs Andenken, distanzierte sich aber lautstark von ihrer Politik als einem »Irrweg«. Fischer selbst hingegen wusste genau, was zu tun war: der Partei unbedingt eine autoritäre Struktur zu verleihen. Als sie und ihre Fraktion 1924 ans Ruder kam, waren schon zu viele kritisch Denkende innerhalb der Partei mundtot gemacht worden, um noch dagegen zu halten – und sie tat alles, um diese fatale Entwicklung voranzutreiben.

Ralf, was erwartest Du, was wir Neues über den Kommunismus lernen, wenn wir die weibliche Erfahrung in den Blick nehmen?

Hoffrogge: Bisherige Forschung zur KPD hat sich oft an einer These von der Partei als »Männerbund« abgearbeitet und dabei die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Parteirhetorik und Parteialltag betont. Das ist wichtig und richtig, lässt aber die Frage offen, wie Frauen sich die Kommunistische Bewegung selbst aneigneten. Die Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen §218 um 1930 ist so ein Beispiel, die von einer unglaublichen Eigendynamik weiblichen Engagements getragen wurde. Nach 1933 gab es noch einmal so einen Moment, als die Partei aus der Öffentlichkeit verbannt war – und Frauen in den Nischen des Alltags die Parteistruktur aufrechterhielten, etwa durch Kontakte zu Gefangenen, Flugblattverteilung und später im Widerstand. Wäre die KPD eine rein männliche Vergemeinschaftung gewesen, hätte es diese weiblichen Eigendynamiken gar nicht geben dürfen – aber sie waren da.

Du nimmst das ganze 20. Jahrhundert in den Blick und machst später auch an der innerdeutschen Grenze nicht Halt. Kannst Du schon eine These formulieren, wie sich die Wege der Frauen in Ost und West entwickelten? Welche Unterschiede und welche Parallelen sich identifizieren lassen?

Hoffrogge: Wenn man sich die biographischen Lexika einmal ansieht, dann bemerkt man in der DDR viele Frauenkarrieren in der Verwaltung – offensichtlich brauchte die SED das Wissen der »Neuen Frauen«, jener weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik, von denen sich einige auch in der KPD radikalisierten. Dies schloss auch Aufstiege in den Repressionsorganen ein, was bisher wenig bekannt ist. Sowohl unter den Opfern, aber auch unter den Organisatorinnen von Parteisäuberungen fanden sich Frauen. In der BRD dagegen war Kommunistin-sein keine Empfehlung, sondern Ursache für sozialen Ausschluss. Es wurden auch Renten für NS-Verfolgte verweigert. Nach dem KPD-Verbot 1956 gab es das Trauma erneuter politische Verurteilungen. Nach dieser Durststrecke scheint es auch später nur wenige Bezüge zur »Neuen Frauenbewegung« gegeben zu haben, obwohl sich einige finden, vor allem im Milieu der 1968 gegründeten DKP. Meine These ist, dass überlebende Kommunistinnen der Weimarer Berlin, 1925: Ruth Fischer spricht im Lustgarten Zeit hier an der dogmatischen Wende von Teilen der Neuen Linken mitstrickten, dass die erfahrene Repression eher zu einer gedanklichen Verhärtung führte – aber genau das wäre zu untersuchen.

Gab es auch einen Austausch über die Mauer hinweg? Blieben einzelne Frauen in Kontakt?

Hoffrogge: Das waren Ausnahmen, aber es gibt sie – Henning Fischer etwa hat die Lagergemeinschaft der Überlebenden des Frauen-KZ Ravensbrück untersucht und hier einen Raum gefunden, in dem kommunistische Frauen aus Ost und West nicht nur Kontakt hielten, sondern aktiv die Erinnerungspolitik in beiden deutschen Staaten mitgestalteten.

David, die Akteurinnen und Akteure, die du in deiner Dissertation in den Blick genommen hast, sind zumeist nicht in den Westen gegangen, sondern wurden dort sozialisiert. Ich spreche von der »Neuen Linken«. Was unterscheidet sie von jenen Personen, mit denen Mario und Ralf sich beschäftigen?

Bebnowski: Die Neue Linke war eine vor allem von jungen Intellektuellen getragene Formation, die sich ab der Mitte der 1950er-Jahre in bewusster Abkehr von Sozialdemokratie und Parteikommunismus konstituierte. Für die Neue Linke hatte die traditionelle Arbeiterbewegung abgewirtschaftet: Sie bot keine Antworten auf die politischen Herausforderungen der Zeit und enttäuschte viele Erwartungen. Deswegen verordnete man sich einen neuen Anfang. Dieser konnte im Grunde nur im »Westen«, in dem es eine freiere Debatte gab, stattfinden. Trotzdem unterschied sich die Neue Linke je nach Land und politischer Kultur voneinander. In Großbritannien und Frankreich spielten dissidente Kommunisten beispielsweise eine viel größere Rolle als in Deutschland, in der die KPD als Kristallisationspunkt ausfiel durch das Verbot 1956, die Teilung des Landes und die durch den Nazismus abgerissenen Verbindungen der Arbeiterbewegung.

Du hast das Beispiel West-Berlin untersucht und damit nicht nur eine Hochburg der Neuen Linken, sondern auch eine des Antikommunismus. Der »Vorposten der Freiheit« verstand sich als Bollwerk gegen den Kommunismus. Würdest Du sagen, der Ort prägte die Bewegung?

Bebnowski: Ja, auf eine sehr widersprüchliche Art und Weise. Neben dem »Vorposten der Freiheit« war West-Berlin ja auch ein »Schaufenster der Systemkonkurrenz«. West-Berlin war ein hochgradig widersprüchlicher Ort, der gerade deswegen zumindest in Grenzen einen fruchtbareren Nährboden für eine reformorientierte Politik bot der Rest der Bundesrepublik. Die SPD war, auch durch Protegierung der amerikanischen Besatzungsbehörden, zur hegemonialen politischen Kraft aufgestiegen und stand unter dem Druck, ein überzeugenderes Angebot entwerfen zu müssen als das Regime im Ostteil der Stadt. Mit Blick auf die Neue Linke war nicht zuletzt wichtig, dass die Freie Universität als Reformuniversität gegründet wurde, die nicht nur viele oppositionelle Studierende, sondern auch sozialistische Hochschullehrer und -lehrerinnen anzog. Hier aus diesem Milieu formierte sich schließlich die Neue Linke und es ist kein Wunder, dass West-Berlin als Hauptstadt der Studentenbewegung der 1960er-Jahre gilt.

Mario, das letzte Wort geht natürlich an dich. Stell dir vor, du hast einen Wunsch frei mit Blick auf die weitere Entwicklung der Kommunismusgeschichte. Welche drei Themen sollte sie in den nächsten zehn Jahren in den Blick nehmen?

Keßler: Erstens, die Frage, wann der Zug einer ursprünglichen Emanzipationsbewegung aufs falsche Gleis geriet, zweitens ist der Frage nicht auszuweichen: Was stimmte schon in den Grundlagen nicht? Drittens, woher nahmen die Grenzgänger und Dissidenten des Kommunismus die Kraft, an ihrer Entscheidung für eine bessere Gesellschaft auch dann festzuhalten, wenn sich ihr Fundament als brüchig erwiesen hatte? Bleibt die Utopie, also der NichtOrt, etwas, wonach weiter zu suchen ist? Ich werde diese Suche fortsetzen, solange ich dazu noch in der Lage bin. David und Ralf, meine einstigen Doktoranden, werden, wie auch Uwe Sonnenberg und Nikolas Dörr, deren Dissertation am ZZF ich ebenfalls begleiten durfte, sicher auf solchen Wegen weiter gehen – in jeweils eigener Weise. Eine Forderung von mir an sie alle bleibt bestehen: Sie müssen die Dinge besser anpacken als ich, denn nur dann, wenn die Jüngeren die ältere Generation überholen, ist Fortschritt in der Wissenschaft möglich.

 

Anmerkung zum Gespräch: Das im Interview skizzierte Forschungsprojekt von Ralf Hoffrogge ist derzeit in der Antrags- & Begutachtungsphase. Wir drücken die Daumen, dass eine Finanzierung zustande kommt!

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Interview: Perspektiven auf die Geschichte des Kommunismus mit David Bebnowski, Ralf Hoffrogge und Mario Keßler

23.07.2021

Im Rahmen unseres Jahresberichts 2020 haben wir mit ZZF-Historikerinnen und Historikern spannende Gespräche über ihre Forschungsgebiete führen können. Über Perspektiven auf die Geschichte des Kommunismus sprechen in diesem Interview David Bebnowski, Ralf Hoffrogge und Mario Keßler. Das Interview führte Stefanie Eisenhuth
 


Bild von Madison Inouye auf Pexels

 

Lieber Mario, lieber Ralf, lieber David, eure Forschungsprojekte verbindet, dass sie sich Menschen widmen, die mindestens einen Teil ihres Lebens ganz dem Engagement für ihre politische Überzeugung verschrieben haben – teils mit Auswirkungen auf die nächste und übernächste Generation. Auch viele Romane, die sich der Geschichte des Kommunismus in (auto-)biographischer Perspektive nähern, erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit: Eugen Ruges Bücher »Metropol« und »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, Natascha Wodins »Sie kam aus Mariupol«, Robert Cohens »Exil der Frechen Frauen« oder Alexander Osangs »Das Leben der Elena Silber«. Was fasziniert uns an diesen Erzählungen?

Hoffrogge: Cohens Freche Frauen faszinieren, weil die Geschichte der KPD in der populären Erinnerung entweder verdammt, verschwiegen oder als heroisch-männliche Erzählung zelebriert wurde. Erst nach 1990 widmete sich die Forschung zaghaft der Sozial- und Alltagsgeschichte der Weimarer KPD, die Geschlechtergeschichte steckt immer noch in den Kinderschuhen. Cohens Porträt dreier Kommunistinnen im Exil stößt in diese Lücke – Literatur leistet, was die Forschung (noch) nicht geschafft hat.

Bebnowski: Ich kann gut an diese Gedanken zur Leistung der Literatur anschließen. Literatur hat immer eine poetische Dimension, in dem sie der Welt, in der wir leben, durch ihre Erzählungen Umrisse und Tiefe verleiht. Diese Dimensionen sind natürlich auch in Bezug auf Arbeitswelten enorm wichtig. Es gibt viele Anstrengungen, sozialistischer und kommunistischer Politik, die »kleinen Leute« zum Schreiben zu bringen. Durch diese Literatur von unten, aber auch die historischen Romane, wird das im weitesten Sinne proletarische Leben und Erleben zu einem Bestandteil kollektiver sozialer Sinnwelten.

Mario, Du gehst nun bald in den (Un-)Ruhestand. Seit Mitte der 1990er-Jahre hast Du den Weg des ZZF begleitet und mit geprägt. Deine Forschungen widmen sich seitdem zu weiten Teilen einer besonderen Facette der Geschichte des Kommunismus: dem Exil. Dabei beschäftigt Dich vor allem der Fortgang ins nicht-sozialistische Ausland. Kannst du kurz erläutern, was dafür charakteristisch war?

Keßler: Der Fortgang meiner Protagonisten und Protagonistinnen – ich habe auch über zwei wichtige Frauen geschrieben – ist keine freiwillige Entscheidung gewesen. Die Flucht aus Deutschland 1933 war für alle der von mir Porträtierten eine Frage auf Leben und Tod, und dies nicht nur, wenn sie Jüdinnen oder Juden waren, sondern auch wegen ihrer Verankerung in der Arbeiterbewegung. Denn die Zerschlagung der Arbeiterbewegung war die Voraussetzung der Vernichtung der Juden durch das Hitler-Regime.

Lässt sich in vergleichender Perspektive sagen, was ausschlaggebend dafür war, ob jemand in die Sowjetunion oder in ein nicht-sozialistisches Land emigrierte?

Keßler: Der Weg ins Exil war von Zufällen übersät. Wer wohin gelangte, hing von der Aufnahmebereitschaft der Fluchtländer, oft auch dem Mangel daran, und der Hilfsbereitschaft Einzelner ab. Die Sowjetunion nahm grundsätzlich nur, zudem sorgfältig »ausgesiebte« kommunistische Flüchtlinge auf. Auch die meisten westlichen Länder wollten weder Kommunisten, Sozialisten noch Juden ins Land lassen, und es bedurfte eines großen Drucks der dortigen Öffentlichkeit, um dies teilweise zu ändern. Die Tatsache zwingt zum Nachdenken, dass Diktaturen oder autoritäre Regime wie Kuba, die Dominikanische Republik und die Türkei sich hier großzügiger zeigten. 

Kannst Du für unsere Leserinnen und Leser kurz zusammenfassen, welchen Einfluss der Ort des Exils dann auf das Leben deutscher Kommunistinnen und Kommunisten nach 1945 hatte?

Keßler: Kommunistinnen und Kommunisten, aber auch Angehörige sozialdemokratischer Organisationen waren weit eher als »bürgerliche« Flüchtlinge bereit, in das Land zurückzukehren, aus dem sie hatten fliehen müssen und in dem Verwandte und Freunde ermordet worden waren. Sie wollten als Teil der Arbeiterbewegung zum Aufbau eines besseren Deutschland beitragen. Wie dies zu erreichen war, entzweite Sozialdemokraten und Kommunisten voneinander. Die Frage schuf aber auch unüberbrückbare Trennlinien zwischen Kommunisten, die Illusionen über das Stalinsche Entwicklungsmodell der DDR hatten, und solchen, die zweifelten, sich dann widersetzen und schließlich oft in den Westen ausweichen mussten. Dort waren antistalinistische Kommunisten aber gleichfalls nicht willkommen. Besonders deutlich wird dies am Fall der Spanienkämpfer: In der Bundesrepublik wurden sie lange ausgegrenzt und erhielten nur sehr niedrige Renten, obwohl sie im Spanienkrieg 1936–39 die Republik verteidigt hatten, wohingegen Wehrmachtsangehörige, die diese brutal beseitigen halfen, die volle Pension erhielten. In der DDR wurden Spanienkämpfer geehrt – so sie nicht einer der kommunistischen Oppositionsgruppen gegen Stalin angehört hatten. Falls dies herauskam, war es auch dort mit den Ehrungen vorbei.

Wirft man einen Blick in deine Biografie, stellt man fest: Nach dem Ende der DDR bist du selbst in die USA und nach Großbritannien gegangen. Auch heute verbringst du noch viel Zeit auf der anderen Seite des Atlantiks. Lässt sich da eine Verbindung ziehen zwischen deiner eigenen Biografie und deinem Forschungsinteresse?

Keßler: Natürlich denke ich auch an Verwandte, die den Nazi-Terror erleiden mussten, nicht oder knapp überlebten, aber vor allem wollte ich jenen Menschen Gestalt und Gesicht geben, die als Ketzer oder Grenzgänger des Kommunismus in der DDR totgeschwiegen, aber auch im Westen oft beschwiegen wurden. Sie sollen im Gedächtnis der Nachwelt fortleben, und dazu wollte und konnte ich einen Beitrag leisten. Dass ich in die USA gelangte, war einer von vielen Zufällen in meinem Leben, in dem ich an meinen Forschungsinteressen eisern festhielt. Dabei half mir auch mein Interesse an der angelsächsischen Populärkultur, mit der ich selbst in der DDR am Radio aufwachsen konnte – der Äther kannte keine Mauern.

Nun leben wir heute in einer völlig anderen Welt als Ruth Fischer oder Paul Merker. Worin denkst Du, kann trotzdem ein Erkenntnisgewinn liegen, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen?

Keßler: Die Erkenntnisse, die ich in meiner Forschungsarbeit gewann und die sich hoffentlich in meinen Büchern niederschlugen, lauten zusammengefasst: Am Beginn der Arbeiterbewegung stand der Kampf um soziale Gerechtigkeit in politischer Freiheit. Beide Komponenten zusammen machen den Inhalt von Demokratie aus. Ihre Formen sind klassen- und zeitgebunden, ihre Werte aber sind überzeitlich. Sie zu vermitteln, bleibt uns als Notwendigkeit aufgegeben.

Ralf, auch Du möchtest künftig verstärkt einen biographischen Ansatz verfolgen und auf diese Weise die Lebenswege von kommunistischen Frauen in den Blick nehmen. Welche neuen Erkenntnisse erhoffst Du Dir davon?

Hoffrogge: Erstmal will ich etwas Grundlagenforschung leisten – es wurde einiges geschrieben über Männerbilder in der KPD, und über die KPD-Frauenpolitik – also ihre Politik für Frauen. Aber bisher findet man die Frauen selbst nur in Romanen wie bei Cohen, oder in kurzen Einträgen biographischer Lexika. Die Frage, wer diese Frauen überhaupt waren, ist daher noch offen – waren es mehr Arbeiterinnen oder eher Angestellte? Wo politisierten Sie sich? Welche Themen waren ihnen wichtig? All das ist bisher nur in Bruchstücken erfasst.

Kannst Du schon sagen, ob sich eine spezifisch weibliche Erfahrung des Kommunismus ausmachen lässt und was sie kennzeichnet?

Hoffrogge: Frauen in der KPD teilten die Erfahrung mit Sozialdemokratinnen, dass sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Partei kämpfen mussten. Sie standen mit den Männern gegen eine Gesellschaft, in der Frauenrechte gerade erst erkämpft wurden – wie das 1919 erstmals ausgeübte Frauenwahlrecht. Gleichzeitig standen sie gegen die Männer in einer Partei, die von einem männlichen Arbeits- und Politikbegriff ausging, wo Streiks wichtiger waren als Hausfrauenproteste und Lebensmittelkrawalle. Dennoch war die KPD die erste deutsche Partei, die 1924 von einer Frau geführt wurde – Ruth Fischer.

Richtig! Wie kam es denn dazu? Und wie reagierten ihre Parteigenossen auf sie?

Keßler: Zwar stand auch Rosa Luxemburg die ersten 14 Tage nach der KPD-Gründung an der Parteispitze, doch wurde eine Entwicklung der KPD hin zum Linkssozialismus mit ihrer Ermordung noch nicht abgebrochen, wohl aber ihrer wichtigsten Denkerin beraubt. Ruth Fischer beschwor zwar Luxemburgs Andenken, distanzierte sich aber lautstark von ihrer Politik als einem »Irrweg«. Fischer selbst hingegen wusste genau, was zu tun war: der Partei unbedingt eine autoritäre Struktur zu verleihen. Als sie und ihre Fraktion 1924 ans Ruder kam, waren schon zu viele kritisch Denkende innerhalb der Partei mundtot gemacht worden, um noch dagegen zu halten – und sie tat alles, um diese fatale Entwicklung voranzutreiben.

Ralf, was erwartest Du, was wir Neues über den Kommunismus lernen, wenn wir die weibliche Erfahrung in den Blick nehmen?

Hoffrogge: Bisherige Forschung zur KPD hat sich oft an einer These von der Partei als »Männerbund« abgearbeitet und dabei die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Parteirhetorik und Parteialltag betont. Das ist wichtig und richtig, lässt aber die Frage offen, wie Frauen sich die Kommunistische Bewegung selbst aneigneten. Die Kampagne gegen den Abtreibungsparagraphen §218 um 1930 ist so ein Beispiel, die von einer unglaublichen Eigendynamik weiblichen Engagements getragen wurde. Nach 1933 gab es noch einmal so einen Moment, als die Partei aus der Öffentlichkeit verbannt war – und Frauen in den Nischen des Alltags die Parteistruktur aufrechterhielten, etwa durch Kontakte zu Gefangenen, Flugblattverteilung und später im Widerstand. Wäre die KPD eine rein männliche Vergemeinschaftung gewesen, hätte es diese weiblichen Eigendynamiken gar nicht geben dürfen – aber sie waren da.

Du nimmst das ganze 20. Jahrhundert in den Blick und machst später auch an der innerdeutschen Grenze nicht Halt. Kannst Du schon eine These formulieren, wie sich die Wege der Frauen in Ost und West entwickelten? Welche Unterschiede und welche Parallelen sich identifizieren lassen?

Hoffrogge: Wenn man sich die biographischen Lexika einmal ansieht, dann bemerkt man in der DDR viele Frauenkarrieren in der Verwaltung – offensichtlich brauchte die SED das Wissen der »Neuen Frauen«, jener weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik, von denen sich einige auch in der KPD radikalisierten. Dies schloss auch Aufstiege in den Repressionsorganen ein, was bisher wenig bekannt ist. Sowohl unter den Opfern, aber auch unter den Organisatorinnen von Parteisäuberungen fanden sich Frauen. In der BRD dagegen war Kommunistin-sein keine Empfehlung, sondern Ursache für sozialen Ausschluss. Es wurden auch Renten für NS-Verfolgte verweigert. Nach dem KPD-Verbot 1956 gab es das Trauma erneuter politische Verurteilungen. Nach dieser Durststrecke scheint es auch später nur wenige Bezüge zur »Neuen Frauenbewegung« gegeben zu haben, obwohl sich einige finden, vor allem im Milieu der 1968 gegründeten DKP. Meine These ist, dass überlebende Kommunistinnen der Weimarer Berlin, 1925: Ruth Fischer spricht im Lustgarten Zeit hier an der dogmatischen Wende von Teilen der Neuen Linken mitstrickten, dass die erfahrene Repression eher zu einer gedanklichen Verhärtung führte – aber genau das wäre zu untersuchen.

Gab es auch einen Austausch über die Mauer hinweg? Blieben einzelne Frauen in Kontakt?

Hoffrogge: Das waren Ausnahmen, aber es gibt sie – Henning Fischer etwa hat die Lagergemeinschaft der Überlebenden des Frauen-KZ Ravensbrück untersucht und hier einen Raum gefunden, in dem kommunistische Frauen aus Ost und West nicht nur Kontakt hielten, sondern aktiv die Erinnerungspolitik in beiden deutschen Staaten mitgestalteten.

David, die Akteurinnen und Akteure, die du in deiner Dissertation in den Blick genommen hast, sind zumeist nicht in den Westen gegangen, sondern wurden dort sozialisiert. Ich spreche von der »Neuen Linken«. Was unterscheidet sie von jenen Personen, mit denen Mario und Ralf sich beschäftigen?

Bebnowski: Die Neue Linke war eine vor allem von jungen Intellektuellen getragene Formation, die sich ab der Mitte der 1950er-Jahre in bewusster Abkehr von Sozialdemokratie und Parteikommunismus konstituierte. Für die Neue Linke hatte die traditionelle Arbeiterbewegung abgewirtschaftet: Sie bot keine Antworten auf die politischen Herausforderungen der Zeit und enttäuschte viele Erwartungen. Deswegen verordnete man sich einen neuen Anfang. Dieser konnte im Grunde nur im »Westen«, in dem es eine freiere Debatte gab, stattfinden. Trotzdem unterschied sich die Neue Linke je nach Land und politischer Kultur voneinander. In Großbritannien und Frankreich spielten dissidente Kommunisten beispielsweise eine viel größere Rolle als in Deutschland, in der die KPD als Kristallisationspunkt ausfiel durch das Verbot 1956, die Teilung des Landes und die durch den Nazismus abgerissenen Verbindungen der Arbeiterbewegung.

Du hast das Beispiel West-Berlin untersucht und damit nicht nur eine Hochburg der Neuen Linken, sondern auch eine des Antikommunismus. Der »Vorposten der Freiheit« verstand sich als Bollwerk gegen den Kommunismus. Würdest Du sagen, der Ort prägte die Bewegung?

Bebnowski: Ja, auf eine sehr widersprüchliche Art und Weise. Neben dem »Vorposten der Freiheit« war West-Berlin ja auch ein »Schaufenster der Systemkonkurrenz«. West-Berlin war ein hochgradig widersprüchlicher Ort, der gerade deswegen zumindest in Grenzen einen fruchtbareren Nährboden für eine reformorientierte Politik bot der Rest der Bundesrepublik. Die SPD war, auch durch Protegierung der amerikanischen Besatzungsbehörden, zur hegemonialen politischen Kraft aufgestiegen und stand unter dem Druck, ein überzeugenderes Angebot entwerfen zu müssen als das Regime im Ostteil der Stadt. Mit Blick auf die Neue Linke war nicht zuletzt wichtig, dass die Freie Universität als Reformuniversität gegründet wurde, die nicht nur viele oppositionelle Studierende, sondern auch sozialistische Hochschullehrer und -lehrerinnen anzog. Hier aus diesem Milieu formierte sich schließlich die Neue Linke und es ist kein Wunder, dass West-Berlin als Hauptstadt der Studentenbewegung der 1960er-Jahre gilt.

Mario, das letzte Wort geht natürlich an dich. Stell dir vor, du hast einen Wunsch frei mit Blick auf die weitere Entwicklung der Kommunismusgeschichte. Welche drei Themen sollte sie in den nächsten zehn Jahren in den Blick nehmen?

Keßler: Erstens, die Frage, wann der Zug einer ursprünglichen Emanzipationsbewegung aufs falsche Gleis geriet, zweitens ist der Frage nicht auszuweichen: Was stimmte schon in den Grundlagen nicht? Drittens, woher nahmen die Grenzgänger und Dissidenten des Kommunismus die Kraft, an ihrer Entscheidung für eine bessere Gesellschaft auch dann festzuhalten, wenn sich ihr Fundament als brüchig erwiesen hatte? Bleibt die Utopie, also der NichtOrt, etwas, wonach weiter zu suchen ist? Ich werde diese Suche fortsetzen, solange ich dazu noch in der Lage bin. David und Ralf, meine einstigen Doktoranden, werden, wie auch Uwe Sonnenberg und Nikolas Dörr, deren Dissertation am ZZF ich ebenfalls begleiten durfte, sicher auf solchen Wegen weiter gehen – in jeweils eigener Weise. Eine Forderung von mir an sie alle bleibt bestehen: Sie müssen die Dinge besser anpacken als ich, denn nur dann, wenn die Jüngeren die ältere Generation überholen, ist Fortschritt in der Wissenschaft möglich.

 

Anmerkung zum Gespräch: Das im Interview skizzierte Forschungsprojekt von Ralf Hoffrogge ist derzeit in der Antrags- & Begutachtungsphase. Wir drücken die Daumen, dass eine Finanzierung zustande kommt!

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